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Nachdenklich musterte
Nancy das Mädchen ihr gegenüber. Für gewöhnlich machte sie sich nichts daraus, sich in ihren Gegenüber hineinzuversetzen – außer, sie konnte dadurch irgendeinen Vorteil erzielen. Doch jetzt, während sie die Schwarzhaarige sie so betrachtete, stellte sie fest, dass sie es tatsächlich aus reinem Interesse tat.
In ihrem gesamten Leben war das Thema Armut ein großes Tabu gewesen. Waren ihr Vater und sie auf der Straße mal einem Obdachlosen begegnet, so hatte er stets getan, als wäre jener non-existent – und sie hatte es ihm gleichgetan.
Allgemein, die Orte Stratos City‘s, die sie im Laufe ihrer Jugend aufgesucht hatte – Theater, Galas – waren nur zugänglich gewesen für Leute, die ihren Stand teilten.
Gar ein Normalverdienender war für sie ein seltener Anblick gewesen, und die Vorstellung an die Menschen, die in Gassen wohnten und sich Spritzen teilten hatte sie stets auf eine unerklärliche Weise verstört.
Immerhin waren das die Leute, die jemanden wie ihr Böses wollten, nicht wahr?
Das hatte ihr Vater immerhin stets zu sagen gepflegt und sie somit daran gehindert, Orte
ohne ihn aufzusuchen.
Er war stets an ihrer Seite gewesen.
Ein bitterer Geschmack färbte ihre Zunge und zog sich bis zu ihrem Rachen hinab.
Sie konnte sich also kaum vorstellen, wie Tomie ihr Leben bisher verbracht hatte. Ein Mysterium, wahrlich, doch war
Nancy bereit, dieses zu erkunden. Ihr Weg, der sie zu dieser Bushaltestelle geführt hatte, war befleckt von Lügen – endlich konnte sie bestimmen, welcher dieser Geschichten sie Glauben schenken würde.
Tomie jedenfalls schien nicht wie jemand zu wirken, der ihr bei nächster Gelegenheit ein Messer an die Kehle halten würde. Sie war erstaunlich hübsch; ein Fakt, den sie sich nun schon zum zweiten Mal eingestand. Naiv wie sie bisher gewesen war, hatte sie sich jene, die der unteren Schicht der Gesellschaft angehörten, nie als
attraktive Gesellen vorgestellt.
Sie legte den Kopf schief und musste belustigt feststellen, dass es aus ihren (ehemaligen) Bekanntenkreisen Frauen gab, die bereit waren, ein Vermögen auszugeben, nur, um jene natürliche Schönheit zu erlangen, die Tomie besaß.
Welch Ironie.
Die Schwarzhaarige schien zu ahnen, dass irgendetwas an der Beziehung zwischen
Nancy und ihrem Vater nicht stimmte, doch besaß sie die Höflichkeit, ihre Gedanken dazu nicht laut auszusprechen.
»Verstehe«, erwiderte sie stattdessen und nahezu dankbar schenkte
Nancy ihr als Antwort darauf ein sanftes Lächeln.
Sie war nicht bereit, einer anderen Seele von den Dingen zu erzählen, die er ihr angetan hatte.
Sie waren so schrecklich, so ekelerregend, dass sie es sich selber nicht einmal eingestehen wollte. Ihr Vater, oh, ihr lieber Vater.Noch nicht.
Als sie Tomie eine Antwort auf ihre zuvor gestellte Frage gab, veränderte sich der Ausdruck in ihren klaren Augen und für eine Sekunde fragte
Nancy sich, ob sie etwas falsches gesagt hatte.
Sie würde noch eine zeitlang mit dem Mädchen klarkommen müssen, zumindest einen Teil der Busfahrt über; da wollte sie es vermeiden, sie vorzeitig zu verstimmen.
Doch verschwand eben jener Ausdruck im selben Herzschlag, in welchem er ihr aufgefallen war – stattdessen begegnete Tomie‘s Blick ihr mit einem Leuchten.
»Ein Weltenbummler, also?«
Erleichtert schmunzelte
Nancy auf und strich sich eine weiße Strähne hinter das Ohr.
Ein Weltenbummler? Oder jemand, der versuchte, ihrer Vergangenheit zu entkommen?
»
Kann man so sagen.«
In Tomie‘s Augen erkannte sie einen unausgesprochenen Wunsch und erst da wurde ihr so wirklich bewusst, sie eingeschränkt sie im Vergleich zu
Nancy doch war.
Es stimmte, was die Leute sagten – Geld öffnete Türen und machte das Leben leichter.
Sie erwartete, eine ähnliche Aussage aus dem Mund der Schwarzhaarigen kommen zu hören, doch stattdessen meinte sie lediglich: »Es gibt so viel zu entdecken und ich denke, dass dies erst der Anfang sein wird. Ich kann es kaum erwarten.«
Oh, welch wahren Worte.
Nancy nickte zustimmend, und auch das Psiana auf ihrer Schulter schien dem anderen Mädchen einen vielversprechenden Blick zu schenken.
»
Wie Recht du hast.«
Schließlich wurden die Drei in das gelbliche Licht des Busses gehüllt, quietschend kam er neben ihnen zum Stehen.
Man sah dem Fahrzeug sein Alter an; hier und da zeigten die Felgen rostige Flecken, das Plakat, das einst wohl Werbung für den (damals) neu eröffneten Supermarkt in Stratos City machen sollte, war vergilbt und stellenweise abgerissen.
Nancy hoffte, sich keine Krankheit einzufangen, sobald sie den Bus betreten würde.
Die vordere Tür schwang schlagartig auf und gab dabei jenes unangenehm schrille Geräusch von sich, welches auch die Bremsen zuvor getan haben.
Der Busfahrer schien erstaunlich nett, trotz seinem ungepflegten Erscheinungsbild.
Nancy lächelte Tomie ein letztes Mal an, ehe sie den Bus betrat.
»Wohin geht‘s, meine Damen?«, fragte der breit gebaute Herr, an seinem Mundwinkel hing eine sanft glühende Zigarette.
Die Blonde blinzelte. Wie peinlich – welche Stadt wollte sie denn zuerst ansteuern?
»
Fahren Sie mich einfach zur Endstation«, erwiderte sie schließlich und kramte in ihrem Rucksack nach ihrem Portemonnaie, um die passenden Geldscheine rauszufummeln.
Da fiepste ihr Psiana leise in ihr Ohr, und als würde sie genau verstehen, was es sagen wollte, wandte
Nancy kurz den Kopf und sah zu Tomie, die noch draußen wartete.
»
...und das Mädchen hinter mir auch«, fügte sie schließlich an und legte ihm das Geld hin.
Sicherlich trug Tomie nicht allzu viel Bares bei sich – sie würde es noch für andere Dinge brauchen.
Und was sollte sie sagen? Vielleicht drang
Nancy‘s Gutherzigkeit gerade wegen den herrschenden Umständen so stark durch, dass sie sich dazu entschloss, für das ärmere Mädchen mitzuzahlen.
Sollte sie nicht bis zur Endstation durchfahren wollen, dann könnte sie einfach aussteigen –
Nancy jedenfalls hätte ihr Gewissen mit dieser kleinen Geste der Nächstenliebe für die nächste Zeit bereinigt.
Lächelnd nahm sie die Fahrkarte und das Wechselgeld an, ehe sie sich dem nächstbesten Sitzplatz näherte und sich dort niederließ.