"Kämpf du erstmal gegen 5 Leute gleichzeitig und sei danach überhaupt noch in der Lage zu kämpfen..." Eine Spur Verärgerung mischte sich in Lotus' Stimme. Es regte ihn auf, dass der Kampf gegen 278 so chancenungleich gewesen war, nur wegen diesen blöden Staubviechern. Dass Lotus sie eigentlich nicht verletzen wollte, aber sie ihn praktisch dazu gezwungen hatte. Es passte alles nicht in den Rahmen - musste er wirklich töten, um dem Töten und Quälen ein Ende setzen zu können? Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder Pansa zu. "Ich bin überzeugt davon, dass du für mich mindestens 6 Pfoten brauchst." Lotus schnaubte belustigt. Gut, dass wenigstens einer davon überzeugt ist. Lotus hätte es gerne laut gesagt, doch er konnte schon spüren, wie die Stimmung drohte, unentspannt zu werden, und ein tatsächlicher Streit war so ziemlich das letzte, was er jetzt brauchen konnte. Lotus nahm eine kampfbereite Position ein, senkte den Kopf, verengte die Augen und wartete darauf, dass Pansa den ersten Angriff starten würde. Auch wenn Lotus wusste, dass er mit Pansa stets spannende Kämpfe ausgetragen hatte, stellte er jetzt schon fest, dass die Spannung, das Adrenalin ganz anders war als die beiden anderen Kämpfe heute: Gegen das Krokodil war es leicht, da hatte er keine Sympathie für seinen Gegner, da gab es keine Hemmschwelle. Gegen 278 lief in diesem Moment, in dem er auf den ersten Angriff wartete, sein Gehirn heiß vor lauter Gedanken, die durch den Kopf blitzten. Jetzt war es anders - Lotus Kopf war leer, es verließ sich voll und ganz auf seine Instinkte und Reaktionen. Auf geht's.
Lotus streckte die Zunge heraus und zog eine Grimasse. "Ich riech's." erwiderte er gespielt genervten Tonfall. "Aber hättest du die anderen Seiten der 'Abreibungen' gesehen, wüsstest du, wem ich eine verpasst hab." Lotus blieb direkt vor Pansazu stehen, hob seine nachgewachsene Pfote und blickte sie mit scheinbar nachdenklichen Augen an: "Schaut schon wieder ganz gut aus, nicht? Nur manchmal kann ich sie noch nicht ganz kontrollieren." Und mit einem gespielt unvermittelten Zucken schlug er Pansa leicht auf die Schnauze. "Oh, Entschuldigung." Lotus zuckte mit den Schultern. "Anscheinend hattest du es verdient." "Aber" begann Lotus und holte tief Luft. "ich habe gemerkt, dass ich ein wenig kalt geworden bin, was Kämpfen angeht. Deshalb hab ich mir gedacht, warum nicht mal wieder dem alten Fetzenfell einen Besuch abstatten. Du wärmst mich zwar jetzt auch nicht unbedingt auf, aber die ganzen wichtigen Katzen sind alle beschäftigt wegen 001's Tod, und man muss eben manchmal Kompromisse eingehen." Ein breites, triumphierendes Grinsen legte sich auf Lotus Gesicht. "Wollen wir nachsehen, ob deine Schläge noch die vier Pfoten wert sind?"
Unzufrieden streifte Lotus durch die Gänge. Gerade hatte er sich noch mit 093 unterhalten - eine Katze von durchaus interessantem Charakter, das musste Lotus zugeben, aber irgendwie wünschte Lotus sie sich gerade zur Hölle. Belustigt schnaubte er, als er sich erinnerte, dass das tatsächlich auch ihr Wunsch wäre. Doch genau da begann auch schon der frustrierende Teil dieser ungewöhnlichen Katze: Das Weltbild, dass sie zu vertreten schien, passte hinten und vorne nicht in die Realität, die Lotus kannte. Es war für ihn unerklärlich, wie eine angeblich so alte Person eine so irrationale Einstellung dem Leben gegenüber haben konnte. Es ärgerte Lotus vor allem, dass sich für 093 alles so trivial und sinnvoll anzuhören schien, obwohl die Argumentation mehr Lücken und Löcher hatte als ein Schweizer Käse. Dir ist langweilig, weil du schon so lange lebst? Gut, wir tun einfach nichts, hören auf zu kämpfen für das, was wir vertreten, langweilen uns lieber und beschweren uns nebenbei über die Grausamkeit des Schicksals und dass sich alles nie ändern wird. Fast schon kam es Lotus so vor, als würde sie es darauf anlegen, mit anderen über das Thema zu sprechen, nur um in die Melancholie ausbrechen zu können und sagen zu können: "Dir geht es ja so gut und mir geht es ja so schlecht". 093 hatte festgestellt, dass sie niemals sterben würde, und als Lösung für das Problem hatte sie einfach entschieden, mit dem Leben aufzuhören. Lotus konnte es einfach nicht verstehen und sie konnte ihn auch einfach nicht verstehen - das frustrierte ihn bis in die Knochen. Es bedurfte schon Lotus gesamter Beherrschung, im Gespräch einigermaßen ruhig und sachlich zu bleiben und seinen Ärger im Zaum zu halten. Dabei war heute eigentlich ein Tag, an dem Lotus gute Laune haben sollte. 093 betraf ihn überhaupt nicht, warum interessierte er sich überhaupt für den mentalen Zustand der alten Tante? 001 war gestorben und die Sonne der Freiheit hatte ein paar vereinzelte Strahlen ins Labor blicken lassen. Der Kampf mit 278 war streng genommen ein Erfolg gewesen - klar, gewonnen hatte er ihn nicht, aber dafür, dass er ein gutes Stück zurücklag im Kampftraining, dass sie mindestens so erfahren und versiert war wie er und dass sie mit diesen blöden Staubviechern kämpfen konnte, hatte er sich eigentlich brilliant geschlagen. Die Dynamik, die 001 Tod mit sich bringen sollte, das "Chaos", wie viele es nannten, war bereits ausgebrochen, an mehreren Stellen im Labor - Die Dynamik, die Lotus dafür zu nutzen versuchen würde, um das Labor zu einem friedlicheren, freundlicheren, freieren Zuhause zu machen. Sogar das Aufeinandertreffen mit 769 heute morgen war rückblickend sogar positiv ausgefallen. Doch was half schon ein "theoretisch ist heute ein richtig toller Tag", wenn man sich in diesem Moment einfach scheiße fühlte? Lotus konnte sich einfach nicht einreden, dass der Tag "richtig toll" war. Das Wetter ging ihm ebenfalls hart auf die Nerven. Musste es heute so kalt sein? Die ganzen Kratzer, die Lotus von den Staubkatzen und 278 abbekommen hatten, fühlten sich im eisigen Wind auch nicht gerade besser an. Besonders die Wunde an der vorderen rechten Flanke, die der ganz zu Beginn erhalten hatte, war an einer unfassbar nervigen Stelle - genau da, wo sich beim Gehen das Fell faltete - und hörte einfach nicht auf zu jucken. Nur gut, dass Lotus wusste, dass auch dort keine lästige Narbe bleiben würde. Apropos Narben - eigentlich könnte er Double-F mal wieder einen Besuch abstatten. Plötzlich hatte Lotus wieder richtig Lust auf einen Trainingskampf mit ihr - solche hatten sie in letzter Zeit wieder öfter ausgetragen, seit Lotus wieder auf allen vier Beinen unterwegs war. Sie waren auch, wenn Lotus so darüber nachdachte, seine Rettung gewesen heute - schon zwei Mal. Und trotzdem war Lotus noch nicht auf dem Stand, auf dem er vor dem Verlust seiner Pfote gewesen war. Ja, Training würde ihn bestimmt aufheitern und schaden konnte es definitiv nicht, wieder ein wenig mehr Routine im Kämpfen zu bekommen - immerhin versprachen die Tage, die auf das Labor warteten, mehr wichtige Auseinandersetzungen als zuvor. Natürlich konnte Lotus nicht damit rechnen, dass er auf faire Bedingungen stieß, wie es im Training üblicherweise der Fall war. Das hatte er sowohl gegen das Krokodil als auch gegen 278 und die Sandkatzen mal wieder lebhaft vor Augen geführt bekommen. Trotzdem lohnte es sich, den fairen 1-gegen-1 Fall zu trainieren: Wie sollte er gegen mehrere Gegner gewinnen, wenn er schon an einem scheiterte? Lotus musste gar nicht lange suchen, bis er das bekannte Narbengesicht entdeckt hatte. Zugegebenermaßen, so viele Narben hatte sie auch nicht, aber da Lotus gar keine besaß, zog er sie gerne im Scherz damit auf. Insgeheim war er zwar etwas neidisch, dass er selbst keine Narben trug - jede Narbe erzählte eine Geschichte von Sieg oder Niederlage, von einer Erfahrung, aus der man lernen konnte. Lotus hatte das Gefühl, dass mit jeder Wunde, die sich schloss und ohne Narbe blieb, die Geschichte dahinter ein Stück weit verloren ging und vielleicht sogar irgendwann vollkommen verblassen würde. Das war gut an seiner Pfote zu sehen: Erst verlor er sie durch 769, ärgerte sich mondelang schwarz über ihn, und ging heute plötzlich mit ihm auf Abenteuer in der Kanalisation. Er konnte es selbst kaum glauben, wie schnell der Hass auf den Vertrauen in ihm abgefallen war. Damals, direkt nach dem Verlust der Pfote hatte er sich doch geschworen, ihm niemals zu verzeihen. Aber jetzt, neun Monde sollte es ihm nicht mehr gelingen, reinen Gewissens an diesem Versprechen festzuhalten? "Tag, Pan." Lotus' Motivation auf Training hatte seine Sprachknoten noch nicht so ganz erreicht. "Ganz schön mieses Wetter heute, nicht? Wie geht's?" , fragte er die Kätzin mit einer nickenden Kopfbewegung, während er noch auf sie zu stiefelte.
Dem stillen Aufschrei 769's nach zu urteilen war er wohl von dem Krokodil ins Bein gebissen worden - gebissen klang in diesem Kontext schon fast zu schwach. Es war ein Glück, dass durch den abrupten Angriff nicht besonders viel Kraft in den Biss geflossen sein konnte; zumindest schien das Bein noch in benutzbarem Zustand am restlichen Körper zu hängen. Lotus hatte ja seine Erfahrungen mit abgetrennten Gliedmaßen; so etwas wünschte er niemandem, nicht einmal 769, der damals verantwortlich gewesen war für den Verlust der Pfote. Auch nicht, wenn er wüsste, dass sie ihm wieder nach wachsen würde. 769 hat in der Zwischenzeit begonnen, 769-Sachen zu machen. Lotus hatte bislang nur von der Fähigkeit des Vertrauten gehört. Umso mehr war er fasziniert, sie nun im Einsatz zu sehen: 769 befreite sich prompt aus den Fängen, wich auf Lotus' Höhe zurück und erzeugte dadurch ein kurzes Standoff zwischen den beiden und dem Krokodil. Dieses schien zwar verunsichert dadurch, dass es nun gegen zwei Gegner kämpfte, und vielleicht auch dadurch, dass der eine komische Sachen machte, doch es war definitiv nicht bereit, seine Beute aufzugeben. "Sein Panzer wirkt sehr massiv... Aber was ist mit seinem Bauch?" raunte 769 zu Lotus, ehe er wieder im Boden verschwand, sich unter das Krokodil bewegte und dann von unten in es hineinzukatapultieren. Darauf konnte das Vieh nicht schnell genug reagieren und es landete mit einem Schnaufen auf seinem Rücken. Lotus nutzte die Gunst der Stunde und sprang auf die Unterseite des Mauls des Krokodils, sodass dieses hoffentlich sein Maul gar nicht erst mehr öffnen können würde. Nebenher begann er die nasse Haut im Halsbereich des Tieres mit seinen Krallen zu bearbeiten. Diese war hart genug, um den Angriffen zunächst standzuhalten, definitiv war sie härter als bei einer Katze, doch nach ein paar Schlägen konnte Lotus sich in der Haut festkrallen und das überraschenderweise nicht besonders auffällig warme Blut des Tieres zwischen den Pfoten erkennen. Das Krokodil hatte schon nach ein paar Augenblicken gemerkt, dass es mit Lotus' Gewicht auf dem Maul dieses wohl nicht dazu verwenden könnte, um mehr Schaden an den beiden Katzen anzurichten. Deshalb begann es, sich wie ein schnalzender Ast hin und herzuwinden, um das Gewicht abzuwerfen und wieder auf die Beine zu kommen. Das machte es Lotus schwer, weiteren Schaden mit seinen Krallen anzurichten, denn er musste seine ganze Konzentration darauf richten, nicht direkt beim ersten Winden des Krokodils von diesem herunterzufallen zu werden und mit Schwung gegen die nächste Wand zu fliegen. Der Schwanz des Viehs schwang ohnehin schon gefährlich nah an 769 vorbei und Lotus war sich nicht sicher, ob er lieber von dem harten Tentakel den Arsch versohlt oder von mehreren Reihen Zähnen den Schwanz abgetrennt haben würde. Lotus Rodeoshow blieb trotz aller Anstrengung letztendlich von kurzer Dauer: Wenigstens wurde er nicht unkontrolliert durch den Raum geschleudert, sondern konnte mit einem gezielten Satz außer Reichweite von Maul und Schwanz des Tieres springen. "Ich weiß nicht", rief er 769 mit einem Keuchen zurück. "Besonders weich kommt mir der Bauch jetzt auch nicht unbedingt vor."Da wird es wohl schon einige Zeit dauern, bis wir tödlichen Schaden an ihm angerichtet haben. Wobei Lotus zugeben musste, dass seine Kralleneinschläge durchaus ernstzunehmende Wunden verursacht hatten - die Bewegungen des Krokodils hatten auch dafür gesorgt, dass Lotus Krallen noch ein wenig tiefer in das Fleisch eingedrungen waren.
Vor nicht einmal einer Minute war Charon im Gang aufgetaucht, mit dramatischem und dennoch selbst bewusstem Gang - als wäre sie der Tod persönlich - und schon hatte die Show begonnen: Zunächst war sie auf 311 gestoßen, einer der weniger auffälligen Wächter - fand Lotus - und hatte mit ihm ein paar Worte gewechselt. Nicht weit entfernt erhob sich plötzlich Pansa und begann, auf die beiden zuzugehen. Sie würde doch nicht versuchen in das Gespräch zwischen Charon und 311 einzubrechen, oder? Es erinnerte ihn nur zu gut an heute Mittag, wo 093 unhöflich von 013 aus dem Gespräch mit Charon vertrieben worden war. 093 war dann auch sichtlich sauer gewesen deswegen. Unauffällig, aber gespannt, trat Lotus ein paar Schritte näher an die Gruppierung heran. Mal sehen, wie es sich entwickelt. Charon gehörte immerhin noch zu den Katzen, die Lotus sehr respektierte. Auch wenn sie in der Öffentlichkeit wohl kaum mehr als "Mutter" von ihm betitelt werden würde, tief in seinem Herzen war sie noch genau das für ihn: Eine starke Katze, die ihn vor Gefahren beschützen würde und sich nicht nur um ihre eigenen, leiblichen Kinder sorgte. Lotus hoffte nur, dass sie die Grausamkeit ihres Gefährten nicht in der existierenden Form beibehalten wollen würde, vielleicht sogar, wie er, bekämpfen würde - System hin oder her. Seit heute Mittag war er noch nicht in ein vier-Augen-Gespräch mit ihr gekommen. Wo sie hinging, begegnete sie Katzen, die irgendetwas von ihr wollten: Beileid sprechen, Wissen wie es weitergeht, ihren Tod - man konnte es nicht immer wissen. Lotus beneidete sie an diesem Abend nicht um den Status, den sie im Labor trug. Aber er konnte auch die anderen verstehen: Irgendwann wollte auch er mit Charon das Gespräch über die Zukunft des Labors führen, ihr sagen, wie er zu der ganzen Sache stand. Solange er nicht wusste, was ihre Pläne waren, konnte er nicht einmal sagen, ob er sie unterstützte oder nicht; gerade noch verteidigte er im Zweifelsfall seine Mutter und nicht seine Anführerin. Doch bestimmt würde sich noch eine passende Situation für ein persönliches Gespräch ergeben. Oder vielleicht fand Lotus ja auch durch Zuhören heraus, was eigentlich Sache war. Charon hatte im Gespräch in der Zwischenzeit versucht, ihre Dominanz zu zeigen und 311 sowohl verbal als auch lokal aus dem Ring zu drängen. Leider ließ sich dieser von dem Druck, den sie auf sie ausübte, überhaupt nicht beirren. Stattdessen drohte er fast auf dem Schleim, der aus seinem Mund floss, auszurutschen: "Du hast ein falsches Bild von mir, 200. Meine Grausamkeit gilt nur denen, die es verdient haben." Ein penetranter Würgereiz stieg in Lotus Kehle hoch. "Die, die es verdient haben... Niemand hat Grausamkeit verdient, du hochnäsige Gummiente!" Ja, genau diese Katzen waren es, die Lotus Tag für Tag die Laune verdorben hatten. Selbst nach so langer Zeit in dieser Umgebung konnte er es nicht fassen, wie eine rational denkende Persönlichkeit. die kein Junges mehr war, ein derartig verdrehtes Verständnis von Gerechtigkeit haben konnte. Da musste doch eine der Annahmen falsch sein. Pansa hingegen zog tatsächlich das Maneuver durch, das Lotus schon vor einigen Sekunden vorhergesehen hatte. Die Art und Weise entlockte Lotus jedoch ein leises Kichern: Sie ignorierte 311 einfach zunächst komplett, drehte sich dann nach ein paar Sekunden überrascht zu ihm um, als hätte sie ihn nicht bemerkt, und sagte: "Oh, hallo 311. Seit wann stehst du denn hier?" Da wunderte es Lotus kaum, dass dieser Pansa wenig begeistert des Platzes verwies. Sogar jemand, der so blöd war wie er, musste bemerkt haben, dass er gerade einen größeren Disrespect kassiert hatte. Auch wenn Lotus zugeben musste, dass der Counter mit den Erwachsenen auch nicht zu schlecht war. Zumindest wenn man von körperlich erwachsen sprach.
Lotus stand an der Ecke und beobachtete 769, wie er sich aufplusterte und breit vor das unbekannte Wesen positionierte. Lotus konnte nicht genau sehen, was passierte, nur, dass da plötzlich eine ruckartige Bewegung war und etwas nach 769 schnappte. Eilig sprintete Lotus in Richtung des Geschehens, um einen besseren Winkel auf ihren Gegner zu bekommen. Der Schock breitete sich langsam über Lotus aus. Das Tier ließ sich ganz gut als Maul mit Schwanz beschreiben - er hatte so etwas noch nie gesehen. Das Haut des Tieres war haarlos und erschien Lotus hart - hoffentlich nicht hart genug, um mit Krallen und Zähnen Schaden anrichten zu können. Der Körper des Tieres war lang und breit, es war schwer zu erkennen, wo er aufhörte und der Schwanz anfing. Doch bei weitem am bedrohlichsten war das überdimensional lange Maul mit mehreren Reihen spitzer Zähne, mit denen das Tier mit einer Wucht nach 769 Bein schnappte, die Lotus noch nie gesehen hatte. Er konnte sich gut vorstellen, wie das Vieh in einem Happs einfach den Kopf einer ausgewachsenen Katze verschlingen konnte. Ohne lange Nachzudenken war Lotus in Sekundenschnelle an 769's Seite angelangt. Es spielte keine Rolle, ob der Vertraute seine Hilfe brauchte oder nicht - Lotus würde es nicht darauf ankommen lassen.
"Es ist bestimmt schwer, die Ewigkeit zu akzeptieren." Lotus nickte nachdenklich. "Ich hoffe für niemanden, dass ihm dieses Los zufällt, und ich bedauere, dass es dir zugefallen ist." Natürlich konnte Lotus nicht nachvollziehen, was die Ewigkeit für Alma bedeutete. Was die Ewigkeit generell bedeutete. Doch ihm war klar geworden, dass die Konsequenzen von ewigem Leben keineswegs wünschenswert waren. Und inwieweit 093 noch lebte, war schwer zu sagen. "Ich fürchte, ich kann dir keine Antworten auf deine Fragen geben. Ich weiß nicht, warum gerade ich der erste bin, der nach 001 Tod die Schwächen des Systems anprangert. Vielleicht weil es in meiner Natur liegt, provokant zu sprechen? Vielleicht weil Ehrlichkeit für mich einen sehr hohen Stellenwert hat? Vielleicht, weil ich schon früher Erfahrungen gemacht habe, die mich in diesem Umfeld unzufrieden machen?" Lotus blickte nachdenklich in die Luft. "Ich hoffe, dass ich nicht der einzige bin, in dem dieses Feuer brennt. Ist es so, so bin ich verloren. Ist das Labor verloren." "Aber die Frage danach, warum gerade ich diese Rolle spiele, ist genauso wenig zielführend wie die Frage, warum genau dir die ewige Wanderschaft zuteil wurde: Wir kennen die Antwort nicht und werden sie vielleicht nie finden. Es spielt auch kaum eine Rolle, warum die Welt so ist, wie sie ist. Wir können nur - wie du sagtest - akzeptieren, was wir sind und wie wir sind, und unseren Herzen folgen; mein Herz führt mich in die Rebellion gegen Gewalt und Unterdrückung. Warum? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass es Besserung geben kann. Ich glaube daran, dass in jeder Katze das Gute steckt. Vielleicht ist es das, was mir die Kraft gibt, nicht vor dem System niederzuknien und die Peitschenhiebe zu ertragen. Was mir den Mut gibt, aufzustehen und die dort oben auf ihre Fehler und Schwächen hinzuweisen, die Wahrheit auszusprechen, die jeder kennt und doch so viele verdrängen."
"Ist es so falsch für das Gemeinwohl zu kämpfen? Für die Gerechtigkeit?" Langsam wurde 093 echt nervig. Es war, als würde man einer toten Katze erklären wollen, was Leben bedeutet. "Ich habe nur dieses eine Leben, also muss ich aus diesem etwas machen, denn eine zweite Chance gibt es für mich nicht. Aber du vermagst das vielleicht nicht zu verstehen. Nicht mehr. Aber das ist ok. Man muss nicht alles verstehen im Leben. Man kann auch einfach mal akzeptieren, dass man etwas nicht versteht." Lotus zuckte mit den Schultern. Er blickte an 093 vorbei in Richtung des Versammlungsplatzes, wo er heute Mittag mit 278 gekämpft hatte. "Vielleicht habe ich es einfach satt, täglich der Ungerechtigkeit ins Auge zu sehen, die im Labor existiert. Der unnötigen Ungerechtigkeit." Lotus seufzte. "Aber wieso versuche ich dir das eigentlich immer noch zu erklären. Du hast es ja die letzten drei Mal schon nicht verstanden." Lotus tat sich schwer einzusehen, dass eine so alte Katze so realitätsfern denken konnte. Er musste ja zugeben: Der Gedanke an ein perfektes, gewaltfreies Zuhause, wo jeder jedem half, jeder jeden mochte und keiner Böses im Sinn hatte, war eine Utopie, war ein Zustand, der nicht erreichbar war. Doch besser als der Zustand, der im Moment im Labor herrschte, war auf jeden Fall möglich, davon war Lotus überzeugt. "Stell dir vor, du wüsstest, dass du deinen Zustand verbessern könntest. Dass es einen Weg gäbe, der dich aus diesem Kreislauf erlöst. Würdest du dann nicht für dieses Glück kämpfen?"
Der kalte Wind sauste durch den Ausgang zum Außenbereich und hatte dafür gesorgt, dass das ganze Labor zu einer eisig kalten Betonhöhle geworden war. Die Temperaturen waren schon Mittags kaum erträglich gewesen, doch da war die Stimmung noch aufgeheizt; es gab wichtigeres als sich über die Kälte und das Wetter zu beschweren. Doch jetzt war nicht nur die Sonne bereits untergegangen und der Schneesturm draußen immer schlimmer geworden, sondern langsam war auch die emotionale Hitze, die der Tag mit sich gebracht hatte, abgekühlt. Lotus streifte unruhig durch die kalten Gänge des Labors. Einige Katzen hatten sich bereits zurückgezogen und nach und nach wurde das Labor leerer. Friedlicher. Lotus leckte sich seine Schulter, wo ein nervig juckender Kratzer prangte, der aus dem Kampf heute Mittag stammte. Frieden war etwas, das Lotus aktuell nicht finden konnte - weder in Hinsicht auf das Labor noch mit sich selbst. Das Leben hatte sich über den Tag hinweg verändert wie das Wetter: Zu Beginn war es kalt, beinahe unerträglich gewesen, doch mit dem Tod von 001 war der Tag immer chaotischer geworden, unberechenbar. Ob sich der Tag als erfolgreich betrachten ließ - Lotus wusste es nicht. In mancher Hinsicht wohl schon, aber in anderer wohl auch nicht. Etwas ziellos bewegte sich Lotus in den Gängen hin und her. Irgendwie war er noch nicht bereit, den heutigen Tag abzuschließen - der Nachmittag hatte ihm ohnehin so viel zum Nachdenken geliefert, dass er jetzt noch nicht schlafen könnte. Am Ende des Ganges entdeckte Lotus 613, die ebenfalls noch wach war. Ob sie genauso wie er angesichts der Ereignisse des Tages noch nicht schlafen wollte? Lotus war sich nicht sicher. Wie konnte er auch? Schon heute Mittag war es ihm schwer gefallen, ihre wahren Intentionen zu erkennen. 278 war da wesentlich leicher zu lesen - genauso wie Lotus machte sie sich keinen Hehl daraus, die Wahrheit auf den Tisch zu legen - nur dass ihre Wahrnehmung für die Wahrheit stark beeinflusst wurde durch ihren Stolz und ihr Bild von der Welt. Aber 613's Aussagen zu interpretieren war schwer. Lotus kannte sie nicht gut genug dafür. Ehe Lotus sich versah, hatten seine Beine ihn zu der weißen Kätzin getragen: "Hey", begann er mit rauer Stimme und räusperte sich. "Auch noch wach?" Eine billige Floskel, doch Lotus hatte nicht vor, mit der Tür ins Haus zu fallen, und für den Moment war sie ausreichend. "Ist ja ein stürmischer Tag gewesen heute, nicht?"
Lotus war voll konzentriert auf 278 und auf sein Umgebung. Es war gut, dass er sie vorhin schon einmal gesehen hatte: Die Staubkatzen, die sich hinter dem Tiger aufgestellt hatten, als er 278 gegenüberstand. Lotus hatte sie zwar nicht kommen hören, doch die Augen hatten verraten, dass etwas ungewöhnliches vor sich ging - nicht die Augen von 278, sondern die von 613 und dem Jungen, das sie ein wenig hinter sich gedrängt hatte. Zeit darüber nachzudenken, wie er auf die Staubkatzen reagieren könnte oder welche Art von Gefahr sie darstellten, war ihm allerdings nicht geblieben. 278 holte bereits zum Schlag aus, übertrieben langsam, mit einem grimmigen, aber triumphierenden, listigen Grinsen. Jedoch war Lotus so angespannt, dass er trotzdem übervorsichtig zur Seite sprang. Der Schlag ging ins Leere. Für einen Moment fragte sich Lotus, wie sich die Wächterin vorgestellt hatte, dass ein derartig langsam ausgeführter Schlag zu einem Treffer führen sollte. Die Antwort kam unmittelbar, als scharfe Krallen Lotus Schenkel streifen, aus einer Richtung, aus der er keine Krallen erwartet hatte. Unvermittelt fuhr Lotus herum. Die harte Pfote der Staubkatze direkt neben ihm schien zwar ihr Ziel dank Lotus' Satz auch nicht mit voller Wucht getroffen zu haben - schmerzhaft waren die Kratzer trotzdem. Der nächste Schlag folgte einen Wimpernschlag später. Lotus war nicht vorbereitet auf die Überzahl an Gegnern. Flink versuchte er, den Schlägen, die aus allen möglichen Richtungen zu kommen schienen, auszuweichen. In Bewegung zu bleiben. Lotus konnte spüren, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss, den Schmerz der Kratzer und Bisse unterdrückte. Das war er, der Rausch des Kampfes. Ein wenig vermisst hatte er ihn schon. Trotz des übermäßig defensiven Kampfstils, den Lotus an den Tag legte, und obwohl die Bewegungen der Staubkatzen verhältnismäßig langsam waren, konnte er nicht alle Verletzungen vermeiden. Immer wieder wurde Lotus von der Seite überrascht. Krallen trafen ihn an den Seiten, am Rücken, im Gesicht, mal stärker, mal schwächer. Bissen auszuweichen war einfacher, solche waren früher erkennbar. Die wenigen Schläge, die Lotus austeilte, schienen kaum Wirkung zu haben. Lotus bildete sich zwar ein, dass es irgendwann eine Staubkatze weniger war oder zwei, doch er war zu vertieft in den Kampf, um sich dessen sicher zu sein. Welche der Katzen 278 war, konnte er ebenso wenig erkennen. Immer wieder hatte er für einen Moment den Anschein, als hätte er sie ausmachen können, doch die Dynamik des Kampfes machte es schwer, ihrer Bewegung zu folgen. Lotus hatte ohnehin nicht das Ziel, sie schwer zu verletzen, und er legte seine Konzentration lieber in seine Verteidigung.
Lotus seufzte: "Du bist mir ein Rätsel, 093. 'Ich kann nichts tun, um mein Schicksal zu verändern, es ist ununstößlich' aber zur gleichen Zeit sagst du, du gibtst nicht auf. Die Zeit sei dein treuer Verbündeter, und gleichzeitig klagst du über die Ewigkeit. Ich kann dein Leid nicht begreifen, 093, da hast du wohl recht, wenn es so ist, wie du beschreibst." Lotus atmete tief durch. "In der Tat ist mein Kampf ein anderer als deiner. Ich hoffte, es wäre anders, für dich und für mich. Ich weiß zwar nicht, ob für immer in den Schatten bleiben und Trübsal blasen mein Modell der Langeweilebekämpfung wäre, aber was weiß ich schon. Ich habe nur neun Monate in den Schatten gelebt und zugesehen, wie die Gegenwart an mir vorbeizog. Zumindest bestätigst du mir, was mir diese Zeit gezeigt hat: Es ist nicht vielversprechend, darauf zu warten, dass das Glück zu einem kommt. Du musst aufstehen und danach suchen, danach streben, dafür kämpfen."
"Danke, 093, dass du mich an die Vergänglichkeit erinnerst. Man merkt richtig, wie sie dir fehlt. Selbst wenn ich einmal erreiche, was ich erreichen will, wird es bestimmt nicht für immer so bleiben. Warum es dann überhaupt versuchen, wenn es ohnehin vergeht? Warum morgens etwas essen und trinken, wenn wir doch Abends ohnehin wieder durstig und hungrig sind? Warum überhaupt aus dem Nest aufstehen, wenn wir doch Abends ohnehin wieder hineinsteigen? Hm? Erkläre es mir, 093? Warum jammerst du über das grausame Schicksal, wenn es doch auch nichts ändert?" "Ich lebe im Jetzt, 093. Ich will, dass morgen ein besserer Tag ist. Dass der nächste Mond ein besserer Mond ist, dass die nächste Blattgrüne eine bessere Blattgrüne ist. Schritt für Schritt. Natürlich will ich, dass das Labor in hundert Jahren ein Paradies ist und hundert Jahre später immer noch. Doch was in hundert Jahren ist, kann ich nicht planen. Deshalb tue ich das nicht. Doch nur, weil, egal was ich schaffe, irgendwann wieder zusammenbricht und im Chaos versinkt, gar nicht erst beginnen zu versuchen, das zu schaffen, ist eine wahrlich verzweifelte Ansicht, die nur von jemandem kommen kann, der aufgegeben hat.
Lotus konnte es förmlich spüren, das Feuer, dass in 278 hochglühte und drohte, in einem mächtigen Wutausbruch zu explodieren. Die Aussage darüber, dass sie wohl keine Freunde hätte, war ihr anscheinend zuviel. Jetzt stand sie mit ausgefahrenen Krallen vor ihm, kochte vor Wut und zischte ihm belangloses Zeug zu über Demütigung und keine Wahl zu. Gerne hätte Lotus ihr gesagt, dass sie damit nur ihre mentale Instabilität zur Schau stellte. Nicht einmal eine Stunde Wächterin und schon ist der Druck zu groß. Lotus Muskeln spannten sich an. Er wich einen Schritt zurück und bereitete sich auf 278 ersten Angriff vor. "War die Wahrheit zu viel für dich?" Ein spöttischer Unterton lag in Lotus Stimme. Er würde nicht rennen, nicht in diesem Moment. "Für wen kämpfst du nun, 278? Für das System, das nie in der Lage war, ohne Gewalt auszukommen? Oder für deine Freunde, von denen du denkst, ich hätte sie verletzt, obwohl du es warst, die gesagt hat, dass sie ihnen nicht vertraut? Keine Sorge, ich werde es 066 nicht erzählen. Oder kämpfst du vielleicht doch nur für dich und deinen verletzten Stolz?" Lotus fletschte die Zähne zu einem breiten Grinsen. Mit angespannten Muskeln und aufmerksamen Augen wartete er auf 278's ersten Schlag.
(Out: Ich denke mal, mehr kann Lotus nicht sagen, bevor er sich voll in den Kampf committen muss, deshalb lass ich es mal gut sein. Achso, auch wenn Lotus gerne alles sagen würde, was jetzt hier steht, ich kann dich natürlich nicht daran hindern, schon vorher auf ihn loszugehen. ;)
Das Gespräch mit 093 war noch nicht vorbei. Sie ergriff nun wieder das Wort und Lotus lauschte gespannt ihrer Antwort. Sein Angriff trug Frucht. Da war er, der brennende Funke, der von einem ungebrochenen Stolz sprach, der Geist der Kriegerin, er lebte. Lotus hatte gehofft, ihn aus dem schwarzen Engel der Dunkelheit herauslocken zu können, denn sie war es, die er sprechen wollte. Für einen Augenblick erlosch der Wahnsinn, der 093 unhüllt hatte. Sie erzählte von ihrem Leben, ihrem Standpunkt und ihrer Ansicht. Das war die Ehrlichkeit, nach der Lotus gesucht hatte. Auch wenn sich die Hoffnung, in 093 vielleicht eine Verbündete gefunden zu haben, wohl nicht erfüllen würde. "Ich zwinge dich nicht, eine Seite zu wählen." Lotus Stimme war wieder ruhig, sachlich. "Aber, wie du dir gerade selbst bewiesen hast, braucht es keine körperliche Stärke, um für das zu stehen, für das man steht.Auch wenn mir nicht klar ist, was das in deinem Fall ist."Es mag sein, dass sich die Welt für dich nicht um das Labor dreht. Doch für mich tut sie das, denn es ist das einzige, das ich kenne, das einzige, das mir etwas bedeutet; es ist mein Zuhause, eigentlich ist es auch deines. Ich habe nicht die Möglichkeit, einfach zu warten, bis sich vielleicht etwas ändert. Versteh, dass ich mein Leben und meine Leidenschaft dafür gebe, um das alles zu beschützen, um das Labor zu einem besseren Ort zu machen als es jetzt ist: Zu einem Ort von mehr Freundschaft und weniger Gewalt. Denn mich erfüllt es mit Freude, zu sehen, wie andere zufrieden sind, mich erfüllt es mit Wärme, wenn es den anderen ebenfalls gut geht. Und mich erfüllt es mit Zorn, wenn die einen die anderen quälen. Aus diesem Grund werde ich dagegen kämpfen. Wenn es dir Trost schenkt, zu sagen: 'In tausend Monden werden alle hier verschwunden sein, alle, die ich hasste, und alle, die ich liebte.' Ich freue mich für dich. Ich bedaure, dass dein Leben für dich sinnlos ist. Doch mein Leben, wie du so schön erwähntest, ist kurz, ist vergänglich und vielleicht ist es auch unbedeutend im Angesicht der Ewigkeit. Doch genau deshalb muss ich es nutzen, jetzt nutzen, denn wenn die Blüte einmal verwelkt ist, wird es zu spät sein für große Träume. Vielleicht erkennst du eines Tages, dass wir" [b]Lotus machte eine schweifende Geste durch den Raum "dass wir nicht einfach alles so hinnehmen können, wie es ist. Wir leben nicht ewig, 093." [/b]
"Wirklich?" Lotus ging einen entschiedenen Schritt in Richtung der schwarzen Katze. "Du... hast aufgegeben? Du bist nicht bereit, für das zu kämpfen, für das du stehst? Weil du für nichts stehst?" Ein weiterer Schritt. "Du siehst zu, wie das System grundlos Katze für Katze abschlachtet, schürst deinen Hass an 001 und seinen Anhängern, und ziehst dann den Schwanz ein, verkriechst dich einer schattigen Ecke?" Noch ein Schritt. "Und wunderst dich dann, dass dich niemand sieht? Bezeichnest diejenigen, die dich in deiner Feigheit nicht wahrnehmen, als dumm und blind?" Lotus stand jetzt direkt vor 093, seine Schnauze weniger als eine Pfotenbreite von der ihren entfernt. "Wo ist die Kriegerin, die du behauptest gewesen zu sein? Es ist eine Schande, sein eigenes Erbe so unnachsichtig in den Dreck zu werfen, und dann noch so zu tun, als wüsste man, was einen Krieger ausmacht. Wenn ich sie wäre, diese Kriegerin, und wüsste, dass dieses armselige Häufchen Elend ohne Identität, ohne Ziel und ohne Willen das ist, was aus mir werden würde, ich würde mich dafür schämen, dass es so tut, als wäre es einmal ich gewesen." Lotus wandte seinen Blick ab und ging bewusst kollisionsfreudig an Alma vorbei, ehe er neben ihr noch einmal stehen blieb. Eine Spur Enttäuschung mischte sich in Lotus Stimme: "Ich bin überzeugt, dass 001 auch für seine Ideale kämpfte, selbst wenn diese Ideale nicht den meinen entsprechen. Doch man kann kein großer Krieger sein, wenn man für nichts kämpft. Es wird wohl das beste sein, wenn du in deinem dunklen, schattigen Eck bleibst, wo dich niemand sehen kann. Der Kampf, ob mit Worten oder mit Krallen, ist nur etwas für Krieger. Und du bist anscheinend keiner."
Lotus legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. "Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Womit soll ich dir abgesprochen haben, dass du ein Herz hast? Wieso zweifeln andere daran, dass in dir ein Herz schlägt? Woher sollte deine brennende Abneigung gegen 001 denn kommen, wenn nicht von Herzen?" Es ergab keinen Sinn, was die schwarze Katze redete. "Aber du hast Recht. Ohne Gewalt wird sich das System nicht bekämpfen lassen. Doch diese Gewalt ist nicht sinnlos. Sie hat einen Zweck. Sie hilft uns, den Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Und außerdem sind nicht wir es, die mit Gewalt anfingen. Wir kämpfen mit Gewalt, wenn es nötig ist. Nicht, weil es uns gefällt, Katzen zu verletzen." "Was soll das heißen, wir sind nicht auf derselben Seite?"
"Wie sehen deine nächsten Schritte aus?" Das war ein schwieriger Punkt. Lotus musste zugeben, dass er sich nicht sicher war. "Ich weiß nicht. Erst heute morgen bin ich aus einem mondelangen Schlaf aufgewacht. So lange habe ich zugesehen. Gesehen, wie meine Mutter starb, getötet durch eine andere Katze. Gesehen, wie anderen Katzen grundlos Leid zugefügt wird. Gesehen, wie Katzen eingebläut wird, dass es nur zum besten des Labors ist. Ich habe es satt, doch ich weiß nicht, wie ich gegen so eine Macht kämpfen soll. Ich brauche Freunde, Verbündete, Anhänger. Welche, die dieselben Ideale verfolgen wie ich und nicht nach Rache und Macht dürsten. Für die Gewalt das letzte Mittel ist." Lotus seufzte und setzte sich auf den Boden. "Leider haben die Katzen im Labor Freundschaft und Vertrauen verlernt. Viele glauben nicht mehr an das Gute in uns, an das, was uns lebenden Katzen von den toten Dingen unterscheidet: An unser Herz. Wie soll ich unter einer Herde aus Eigenbrödlern Katzen finden, die mir Vertrauen? Die mich unterstützen bei dieser Mission? Ich weiß einfach nicht, wer auf meiner Seite ist. Du scheinst auf ihr zu sein?" Lotus schluckte. "Wie war das früher? Wo sind die ganzen Katzen hin, die Gewalt ablehnten?"
Sidenote: Möglicherweise für alle anwesenden Katzen hörbar ;-)
"Nenne es, wie du willst. Traum, Utopie, Vision. Es ist mir egal. Natürlich ist es nicht die Realität. Die Realität ist: 'Wer heute dein Freund ist, kann dir schon morgen eine Kralle in den Rücken bohren.' Sagte eine Katze kürzlich, die ich für intelligent genug hielt, die Welt zu verstehen. Und was hat dafür gesorgt, dass es so ist? Mondelange Anarchie? Sicherlich, da würde es wohl kaum besser aussehen als jetzt. Doch wo ist die Sicherheit, von der du sprichst? Die Ordnung? Dauernd sterben Katzen, weil die, die du verteidigst, Gefallen daran finden, sie zu quälen und zu töten. Und hättest du in deinem Leben jemals einen Freund gehabt, dann wüsstest du, dass ein wahrer Freund dir niemals morgen eine Kralle in den Rücken bohren würde. Ich bedauere dich dafür, 278." "Das System sorgt nicht für Frieden. Vielleicht versucht ihr es, aber schaut euch an, was wir haben. Hätten wir Frieden, 278, dann wäre nicht heute morgen ein Vater und Anführer gefallen, heimtückisch ermordet. Hätten wir Frieden, hätten wir Zufriedenheit, würde dieses Feuer nicht brennen, junge Wächterin. Die "Ordnung", die in deiner fantastischen Welt existiert, sie konnte 001 nicht retten, sie war vielleicht sogar die Ursache für seinen Tod. Ehre, Freundschaft und Vertrauen - sie hätten ihn retten können." "Was ist der Grund dafür, dass ihr diese Werte - Ehre, Freundschaft, Vertrauen, Liebe, Freiheit - als das Böse auf der Welt darstellt? Gewalt ist schon nicht die Antwort auf alles, und auf keinen Fall ist es die Lösung der Probleme, die das Labor hat. Gewalt ist das Kind des Chaos, und ihr verkauft es als Mittel zu Ordnung. Wie soll das funktionieren? Versteh mich nicht falsch, ich verabscheue den Mörder 001, der wie ein Vater für mich war, obwohl er mir nicht besonders nahe stand. Aber noch mehr verabscheue ich die Ignoranz für die Zustände, die seinen Tod verursacht haben. Er hat etwas besseres verdient als als Rechtfertigung für die Fortsetzung der Gewalt, die ihn getötet hat, missbraucht zu werden." Lotus hielt inne. Er war laut geworden. Er trat einen Schritt zurück; ein Vorwand, um sich kurz umzublicken und erleichtert festzustellen, dass nicht mehr allzu viele Katzen in der Nähe waren, um ihn gehört zu haben. Dennoch, es hatten wohl Katzen gehört, die es besser nicht gehört hätten. Gerade eben hatte er 066 noch gesehen, 200 war auch nicht weit und 110... doch jetzt war es zu spät. Die Maske war gefallen. An 613 und das Junge gewandt sagte er noch: "Lass euch nicht zur Gewalt verführen - egal für welche Seite ihr kämpft. Gewalt ist niemals das richtige Ideal."
(Out: @Shahar@Icespark Lotus würde an dieser Stelle das Gespräch verlassen. Wenn Calliope noch etwas (kurzes, vllt ein paar Sätze) sagen will, vielleicht könnte man das außerhalb der Postreihenfolge machen, sodass es Lotus noch mitbekommt, bevor er weg ist - danach ist Postreihenfolge ohnehin unwichtig. Ansonsten @Shahar schreib mir vielleicht, dass 278 erstmal nichts mehr dazu sagt, dann kann ich das Ende entsprechend editieren und festmachen, dass Lotus das Gespräch verlässt. Danke ;-))
Lotus Unbehagen wuchs mit jedem Schritt, den 769 in Richtung der Kanalisation machte, vergrößerte sich mit jeder Fuchslänge, die der Eingang näher zu Lotus kam. Ohne lange zu zögern betrat 769 den stinkenden Gang, aus dem vorhin noch undefinierbare Geräusche ertönt waren. "Komm raus, komm raus." Vorsichtig und zögerlich trat auch Lotus in den verbotenen Gang, von dem es hieß, dass er aus dem Labor führen sollte - nicht, dass es sein Ziel war, das Labor zu verlassen, es war immerhin sein Zuhause. Es war nur... Er nahm einen tiefen Atemzug und riss sich zusammen. Würde er 769 nicht folgen, würde er ihm einen Grund geben, ihn als Feiglich zu bezeichnen. Angst vor einem einfachen, dunklen Gang? Was konnte schon passieren. Gerade noch sah Lotus die Hinterbeine von 769 um eine Ecke verschwinden. Eilig tapste Lotus hinterher, bemüht, eine angemessene Balance zwischen Geschwindigkeit und geringer Lautstärke seiner Schritte zu finden. "Was machst du hier draußen? Das ist nicht das Labor, du gehörst hier nicht hin." 769 Stimme klang - verwundert. Als hätte er sich den Satz zuvor zurecht gelegt, doch jetzt passte er irgendwie nicht mehr ganz in die Situation. Lotus beschleunigte seine Schritte. Er erreichte die Ecke, hinter der 769 sitzen musste und lugte vorsichtig herum, vorbereitet, dass 769 ihn aus dem Hinterhalt anspringen könnte. Doch dieser war vollständig fokussiert auf etwas, dass dort am Ende des Ganges lag. Lotus kniff die Augen zusammen. Wer oder was war die dunkle Gestalt?
Lotus nickte sanft, während er Yuna's Worten lauschte. Im Großen und Ganzen schien sie ihm zwar zuzustimmen, und doch war sie der Meinung war, sie würde vermutlich nicht an Engel glauben können. "Selbst wenn du nicht an sie glaubst, sind sie da, um Trost zu spenden, wenn du solchen gebrauchen kannst. Nur" Lotus stockte kurz. "man wird sich wohl kaum getröstet fühlen, wenn man sie nicht sieht." Langsam schien Lotus wieder ein wenig aus der Nachdenklichkeit aufzuwachen. Wie lange war es schon her, seit dem er so seine Gedanken offen geteilt hatte - Gedanken, die ihm recht persönlich waren? Es war sehr angenehm, in einem tiefen Vertrauen mit einer anderen Katze zu sprechen, aber warum genau vertraute er der weißen Katze überhaupt? Er wusste noch nicht einmal... "Wie ist eigentlich dein Name?"
Das ist alles? Lotus war ein wenig enttäuscht über die Geschichte, denn da war nichts, das er nicht bereits wusste. 001 hatte immerhin seine Grausamkeit nie versteckt, es lag also auf der Hand, dass jeglicher Widerstand auch zu früheren Zeiten schon mit Gewalt niedergeschlagen worden war. Jeder, der sich nicht 001 anschloss, war ein Verräter des Königs und wurde bestraft. Wunderte es Lotus, dass diese Strafen gewaltsam und manchmal tödlich gewesen sein sollten? Absolut nicht. Die Grausamkeit zu übersehen war im Labor nicht möglich, außer vielleicht man trug den Namen Haru. Plötzlich fragte sich Lotus, warum ihn das eigentlich interessierte. Hatte er gehofft, die Machtergreifung des verstorbenen Anführers sei nicht mit rechten Dingen zugegangen, um einen Grund zu finden, gegen das System zu stehen? Die Grausamkeit, die danach noch existiert hatte und immer noch existierte war doch Grund genug. Die Gefangenschaft, die die Wächter über die gewöhnlichen Experimente ausübten. Die willkürliche Gewalt, die manche Katzen im Labor auf andere anwandten. Es reichte, um aufzustehen, und hier schien Lotus eine Chance auf einen wertvollen Anhänger gefunden zu haben. Unglücklich, dass 093 nicht 001 ermordet hatte. Dann hätte er gewusst, wen er beschützen musste... "Welche Ordnung soll das sein, die hier existiert? Katzen verletzen andere ohne Grund, nur steht 001 auf dem Banner und Verräter auf der Stirn des Opfers und deshalb wird es Ordnung genannt? 001 hat die Augen geschlossen, hat weggesehen, während andere in seinem Namen Chaos verbreitet haben und es als Ordnung verkauften." Lotus hielt inne und beruhigte sich wieder ein bisschen, bevor er fortfuhr: "Ich weiß nicht, ob es Ordnung ist, die ich mir wünsche. Doch ich finde, das Ehrgefühl, das hier im Labor existiert - es ist falsch. Ehre ist nichts wert, Gerechtigkeit hat keinen Angriffspunkt und das macht das Labor zu einem grauen, grausamen Ort, von dem viele nur weg wollen, aber nicht können."
Aus der Reaktion der dunklen Gestalt vor ihm wurde Lotus nicht ganz schlau - hatte er etwas falsches gesagt? Lotus war sich durchaus bewusst, dass es hier im Labor eine zu große Menge an Katzen gab, die mit Ehrlichkeit nicht umgehen konnten, doch dabei ging es doch eigentlich nur immer um politische Dinge. Dinge, die der jungen alten 093 anscheinend ebenso missfielen wie sie es Lotus taten; nun, er wusste noch nicht, welcher Teil genau der Kätzin nicht passte. Auch mit Narzissmus hatte Lotus schon Kontakt gehabt; denke man nur an 769 unbrechbare Selbstgefälligkeit. Trotzdem fand Lotus die Reaktion dieser hier ziemlich extrem. "Wenn du mich übersiehst, dann bist du entweder blind oder dumm, kleines Kätzchen." Normalerweise wäre Lotus wohl bei einer solchen Aggression gegen seinen Stolz selbst in eine offensive übergegangen, ob verbal oder körperlich. Auch wenn es ihm bewusst war, dass er damit kaum Blindheit und Dummheit widerlegen konnte. Doch 093 erweckte mehr Mitleid als Wut in Lotus. Es lag auf der Hand, dass sie nicht ganz Herr über ihre Sinne, über ihren Körper und über ihre Emotionen war. "Hey," Lotus versuchte möglichst unbeeindruckt zu klingen. Die emotionale Entladung, die 093 vor ihm vollführt hatte, war dennoch abenteuerlich gewesen und hatte Lotus durchaus schockiert. "Ich sagte, du warst nicht unter den Katzen, die aufgefallen sind. Das heißt nicht, dass ich dich übersehen habe. Und immerhin war es deine Wahl, nicht aufzufallen." Lotus hob seine nachgewachsene Pfote. "Als ich das letzte Mal 'aufgefallen' bin, habe ich eine Pfote verloren. Es ist nicht unbedingt toll, aufzufallen, besonders mit einer Ansicht wie der meinen." Lotus atmete einmal tief ein, ehe er sagte: "Ich bin 25. Natürlich habe ich noch viel zu lernen. Das System lehrt ziemlich - einseitig. Aber ich lerne gerne mehr von einer anderen Seite." Ein herausforderndes Lächeln glitt einen Wimpernschlag lang über Lotus Gesicht, während er erwartungsvoll in 093's blasse Augen blickte."Erzähl mir davon. Von der Zeit, als das System noch in seinen Kinderschuhen steckte. Von den Dingen, von denen ich nichts weiß, weil ich zu jener Zeit noch nicht gelebt habe."
Vielleicht war es der Rauch des nahen Feuers, das in Lotus einen Würgereiz auslöste, während 278 von der Zukunft sprach. Oder von dem, was sie sich unter der Zukunft vorstellte. Da waren Dinge in ihrer Meinung, denen konnte er zustimmen. Zum Beispiel, dass das Labor Veränderung erfahren würde. Dass das Recht des Stärkeren gelte. Auch wenn sich Lotus fragte, wie sie dieses interpretierte. Mit der Logik, dass derjenige den Thron besteigen sollte, der sich an die Spitze gekämpft und bewiesen hat, hätte nicht der Mörder 001's Anspruch auf diese Position? Der Gedanke behagte Lotus nicht, denn er konnte sich nur gut vorstellen, wie auf diesem Weg machthungrige Tyrannen an die Herrschaft gelangen würden. Doch es war auch offenkundig, dass das System so nicht funktionierte: Der Mörder blieb im Verborgenen, viele Katzen ächteten ihn, suchten ihn und wollten ihn zur Strecke bringen. "Ich ehre das Recht des Stärkeren; sei es Stärke, die aus Kraft und Geschwindigkeit, aus Gerissenheit und Finesse oder aus Redegewandtheit und Überzeugungskraft stammt", begann Lotus seine Zukunftsvision. "Die Stärkeren haben das Recht, über die Schwächeren zu herrschen. Doch was bedeutet das? Bedeutet es, dass wir die Schwachen schlagen dürfen, wie es uns beliebt? Dass wir erniedrigen dürfen, vergewaltigen, foltern, töten, willkürlich, weil wir Lust darauf verspüren? Nein, bedeutet es nicht, denn so wäre der Mord an 001 rechtens, nichts anderes als eine starke Katze, die eine schwache Katze tötete. Es wäre nur eine weitere unbedeutende Nummer einer schwachen, identitätslosen Katze, die aus unseren Köpfen verblasst, weil sie sich letztendlich nicht im System durchsetzen konnte. Wir sind uns einig, dass dem nicht so ist, nicht wahr?" Lotus hielt kurz inne, um festzustellen, ob seine Zuhörer ihm noch folgten. "001 hat vielen Katzen ein Zuhause geschaffen - das Labor. Doch ich blicke in die Gesichter von Katzen wie diesem Jungen und frage mich: Was ist das für ein Zuhause, wenn du nur Leid und Tod, Kampf und Wunden, Hass und Misstrauen erblicken kannst? In das du eingesperrt wirst, weil du sonst vielleicht ein anderes Zuhause suchen würdest? In dem du Angst haben musst, dass hinter der nächsten Ecke ein grauer Kater lauert, der nicht einmal nach einem Vorwand sucht, dir die Kehle aufzuschlitzen, denn als Stärkerer habe er doch ohnehin das Recht dazu? Wie könnte man einen solchen Ort Zuhause nennen - ich würde ihn eher als Gefängnis bezeichnen." "Deshalb möchte ich dazu beitragen, dass dieser Ort zu einem Zuhause für alle Katzen, die hier untergebracht sind, wird. Sicherlich, zu einem Ort, an dem das Recht des Stärkeren respektiert wird und derjenige, der es nicht respektiert, bestraft wird. Doch ich wünsche mir, dass es ein Ort wird, wo die Schwachen beschützt und gestärkt werden anstatt gequält und getötet. Wo wir Freundschaft, Vernunft und Ehre lehren und nicht Gewalt, Hinterlist und Verrat der Weg zu einem besseren Leben zu sein scheint. Jeder sollte sich bei der freien Entscheidung zwischen dem Labor und einem anderen Zuhause das Labor wählen. Ich wünsche mir, dass das Labor zu einem Ort der Freundschaft, des Vertrauens und der Ehre wird und nicht zu einer Wolke von Hass, Neid und Verrat. Zu einem Ort, wo Freundschaft und Liebe nicht mehr als Schwäche gilt. Dann ist das Labor nicht nur ein Zuhause, sondern ein Paradies." "001 war fast wie ein Vater für mich. Ich kenne seine guten Seiten, sein gutes Herz. War es nicht auch seine Vision, ein solches Zuhause für jede Katze zu schaffen? Denkt ihr nicht auch, dass dies ein Vermächtnis ist, das es Wert ist, aufrechtzuerhalten und weiterzubauen?"
"Danke." Lotus Stimme war schwach und instabil. Er schniefte einmal tief durch die Nase und blinzelte ein paar Mal scharf, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefasst hatte. "Ich verstehe es, Ray. Dein Vater hat dir viel bedeutet. Du wurdest gezwungen, zwischen Familie oder Freund und potentieller Bestrafung zu wählen. Wer würde sich da nicht für die Familie entscheiden? Doch ich bin froh, dass du auch mich verstehst. Du, Charon, deine Geschwister - ihr seid die einzige Familie, die ich noch besitze. Und auch wenn 001 sich niemals davon überzeugen lassen hätte - er war auch ein Vater für mich. So wie Charon eine Mutter und du ein Bruder, Ray. Als Iris gestorben ist, war die Welt leer, doch ihr habt mich aufgenommen, habt euch gesorgt und allem wieder einen Sinn gegeben. Als ich meine Familie dann zum zweiten Mal verlor..." Lotus Stimme verlor sich in einem tiefen Seufzen. Er blickte auf und sah Ray an. "In dieser Welt ist es gefährlich, Schwäche zu zeigen. Doch, Ray, ich vertraue dir, und ich will, dass du weißt, dass auch du mir immer und mit allem vertrauen kannst. Lass uns gemeinsam über unseren hinübergegangenen Vater trauern. Familie zu verlieren - es gibt kaum etwas, das diesem Schmerz nahekommt. Doch so, wie ihr damals nach dem Tod meiner Mutter für mich da wart, so will ich jetzt für dich da sein, Ray, mein Bruder, wenn du dafür bereit bist."
769's Blick verriet Lotus, dass es jetzt genug war. Die strahlende, pure Arroganz in 769 Augen stellte klar, dass dies die letzte Aussage der Konversation sein sollte, als er sagte: "Pfuh, für jemanden, der keine Ahnung von meinem Leben hat, weißt du große Töne spucken zu müssen." Lotus war vorbereitet, dass 769 ihn gleich anspringen könnte, und dann würde er bereit sein, sich zu wehren. Doch anstelle der sinnlosen Entladung des Konflikts kam es zu einer Ablenkung. 769's Ohren drehten sich plötzlich in Richtung der Kanalisation, aus der Lotus ebenfalls ein leises, regelmäßiges Geräusch wahrnahm. Prompt begann 769 sich mit starrem Blick in Richtung des Geräusches zu bewegen, während er Lotus hinter sich herwinkte. Einen Moment stand Lotus unsicher da, doch dann entschied er sich, 769 in unauffälliger Distanz zu folgen. Zumindest würde er beobachten können, was passiert, auch wenn er 769 unmöglich in die Kanalisation folgen konnte - das verboten die Regeln des Labors und Lotus würde sich wohl kaum darauf verlassen können, dass 769 die Verantwortung für ihn übernahm.
Thema: 