Lotus stand an der Ecke und beobachtete 769, wie er sich aufplusterte und breit vor das unbekannte Wesen positionierte. Lotus konnte nicht genau sehen, was passierte, nur, dass da plötzlich eine ruckartige Bewegung war und etwas nach 769 schnappte. Eilig sprintete Lotus in Richtung des Geschehens, um einen besseren Winkel auf ihren Gegner zu bekommen. Der Schock breitete sich langsam über Lotus aus. Das Tier ließ sich ganz gut als Maul mit Schwanz beschreiben - er hatte so etwas noch nie gesehen. Das Haut des Tieres war haarlos und erschien Lotus hart - hoffentlich nicht hart genug, um mit Krallen und Zähnen Schaden anrichten zu können. Der Körper des Tieres war lang und breit, es war schwer zu erkennen, wo er aufhörte und der Schwanz anfing. Doch bei weitem am bedrohlichsten war das überdimensional lange Maul mit mehreren Reihen spitzer Zähne, mit denen das Tier mit einer Wucht nach 769 Bein schnappte, die Lotus noch nie gesehen hatte. Er konnte sich gut vorstellen, wie das Vieh in einem Happs einfach den Kopf einer ausgewachsenen Katze verschlingen konnte. Ohne lange Nachzudenken war Lotus in Sekundenschnelle an 769's Seite angelangt. Es spielte keine Rolle, ob der Vertraute seine Hilfe brauchte oder nicht - Lotus würde es nicht darauf ankommen lassen.
"Es ist bestimmt schwer, die Ewigkeit zu akzeptieren." Lotus nickte nachdenklich. "Ich hoffe für niemanden, dass ihm dieses Los zufällt, und ich bedauere, dass es dir zugefallen ist." Natürlich konnte Lotus nicht nachvollziehen, was die Ewigkeit für Alma bedeutete. Was die Ewigkeit generell bedeutete. Doch ihm war klar geworden, dass die Konsequenzen von ewigem Leben keineswegs wünschenswert waren. Und inwieweit 093 noch lebte, war schwer zu sagen. "Ich fürchte, ich kann dir keine Antworten auf deine Fragen geben. Ich weiß nicht, warum gerade ich der erste bin, der nach 001 Tod die Schwächen des Systems anprangert. Vielleicht weil es in meiner Natur liegt, provokant zu sprechen? Vielleicht weil Ehrlichkeit für mich einen sehr hohen Stellenwert hat? Vielleicht, weil ich schon früher Erfahrungen gemacht habe, die mich in diesem Umfeld unzufrieden machen?" Lotus blickte nachdenklich in die Luft. "Ich hoffe, dass ich nicht der einzige bin, in dem dieses Feuer brennt. Ist es so, so bin ich verloren. Ist das Labor verloren." "Aber die Frage danach, warum gerade ich diese Rolle spiele, ist genauso wenig zielführend wie die Frage, warum genau dir die ewige Wanderschaft zuteil wurde: Wir kennen die Antwort nicht und werden sie vielleicht nie finden. Es spielt auch kaum eine Rolle, warum die Welt so ist, wie sie ist. Wir können nur - wie du sagtest - akzeptieren, was wir sind und wie wir sind, und unseren Herzen folgen; mein Herz führt mich in die Rebellion gegen Gewalt und Unterdrückung. Warum? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass es Besserung geben kann. Ich glaube daran, dass in jeder Katze das Gute steckt. Vielleicht ist es das, was mir die Kraft gibt, nicht vor dem System niederzuknien und die Peitschenhiebe zu ertragen. Was mir den Mut gibt, aufzustehen und die dort oben auf ihre Fehler und Schwächen hinzuweisen, die Wahrheit auszusprechen, die jeder kennt und doch so viele verdrängen."
"Ist es so falsch für das Gemeinwohl zu kämpfen? Für die Gerechtigkeit?" Langsam wurde 093 echt nervig. Es war, als würde man einer toten Katze erklären wollen, was Leben bedeutet. "Ich habe nur dieses eine Leben, also muss ich aus diesem etwas machen, denn eine zweite Chance gibt es für mich nicht. Aber du vermagst das vielleicht nicht zu verstehen. Nicht mehr. Aber das ist ok. Man muss nicht alles verstehen im Leben. Man kann auch einfach mal akzeptieren, dass man etwas nicht versteht." Lotus zuckte mit den Schultern. Er blickte an 093 vorbei in Richtung des Versammlungsplatzes, wo er heute Mittag mit 278 gekämpft hatte. "Vielleicht habe ich es einfach satt, täglich der Ungerechtigkeit ins Auge zu sehen, die im Labor existiert. Der unnötigen Ungerechtigkeit." Lotus seufzte. "Aber wieso versuche ich dir das eigentlich immer noch zu erklären. Du hast es ja die letzten drei Mal schon nicht verstanden." Lotus tat sich schwer einzusehen, dass eine so alte Katze so realitätsfern denken konnte. Er musste ja zugeben: Der Gedanke an ein perfektes, gewaltfreies Zuhause, wo jeder jedem half, jeder jeden mochte und keiner Böses im Sinn hatte, war eine Utopie, war ein Zustand, der nicht erreichbar war. Doch besser als der Zustand, der im Moment im Labor herrschte, war auf jeden Fall möglich, davon war Lotus überzeugt. "Stell dir vor, du wüsstest, dass du deinen Zustand verbessern könntest. Dass es einen Weg gäbe, der dich aus diesem Kreislauf erlöst. Würdest du dann nicht für dieses Glück kämpfen?"
Der kalte Wind sauste durch den Ausgang zum Außenbereich und hatte dafür gesorgt, dass das ganze Labor zu einer eisig kalten Betonhöhle geworden war. Die Temperaturen waren schon Mittags kaum erträglich gewesen, doch da war die Stimmung noch aufgeheizt; es gab wichtigeres als sich über die Kälte und das Wetter zu beschweren. Doch jetzt war nicht nur die Sonne bereits untergegangen und der Schneesturm draußen immer schlimmer geworden, sondern langsam war auch die emotionale Hitze, die der Tag mit sich gebracht hatte, abgekühlt. Lotus streifte unruhig durch die kalten Gänge des Labors. Einige Katzen hatten sich bereits zurückgezogen und nach und nach wurde das Labor leerer. Friedlicher. Lotus leckte sich seine Schulter, wo ein nervig juckender Kratzer prangte, der aus dem Kampf heute Mittag stammte. Frieden war etwas, das Lotus aktuell nicht finden konnte - weder in Hinsicht auf das Labor noch mit sich selbst. Das Leben hatte sich über den Tag hinweg verändert wie das Wetter: Zu Beginn war es kalt, beinahe unerträglich gewesen, doch mit dem Tod von 001 war der Tag immer chaotischer geworden, unberechenbar. Ob sich der Tag als erfolgreich betrachten ließ - Lotus wusste es nicht. In mancher Hinsicht wohl schon, aber in anderer wohl auch nicht. Etwas ziellos bewegte sich Lotus in den Gängen hin und her. Irgendwie war er noch nicht bereit, den heutigen Tag abzuschließen - der Nachmittag hatte ihm ohnehin so viel zum Nachdenken geliefert, dass er jetzt noch nicht schlafen könnte. Am Ende des Ganges entdeckte Lotus 613, die ebenfalls noch wach war. Ob sie genauso wie er angesichts der Ereignisse des Tages noch nicht schlafen wollte? Lotus war sich nicht sicher. Wie konnte er auch? Schon heute Mittag war es ihm schwer gefallen, ihre wahren Intentionen zu erkennen. 278 war da wesentlich leicher zu lesen - genauso wie Lotus machte sie sich keinen Hehl daraus, die Wahrheit auf den Tisch zu legen - nur dass ihre Wahrnehmung für die Wahrheit stark beeinflusst wurde durch ihren Stolz und ihr Bild von der Welt. Aber 613's Aussagen zu interpretieren war schwer. Lotus kannte sie nicht gut genug dafür. Ehe Lotus sich versah, hatten seine Beine ihn zu der weißen Kätzin getragen: "Hey", begann er mit rauer Stimme und räusperte sich. "Auch noch wach?" Eine billige Floskel, doch Lotus hatte nicht vor, mit der Tür ins Haus zu fallen, und für den Moment war sie ausreichend. "Ist ja ein stürmischer Tag gewesen heute, nicht?"
Lotus war voll konzentriert auf 278 und auf sein Umgebung. Es war gut, dass er sie vorhin schon einmal gesehen hatte: Die Staubkatzen, die sich hinter dem Tiger aufgestellt hatten, als er 278 gegenüberstand. Lotus hatte sie zwar nicht kommen hören, doch die Augen hatten verraten, dass etwas ungewöhnliches vor sich ging - nicht die Augen von 278, sondern die von 613 und dem Jungen, das sie ein wenig hinter sich gedrängt hatte. Zeit darüber nachzudenken, wie er auf die Staubkatzen reagieren könnte oder welche Art von Gefahr sie darstellten, war ihm allerdings nicht geblieben. 278 holte bereits zum Schlag aus, übertrieben langsam, mit einem grimmigen, aber triumphierenden, listigen Grinsen. Jedoch war Lotus so angespannt, dass er trotzdem übervorsichtig zur Seite sprang. Der Schlag ging ins Leere. Für einen Moment fragte sich Lotus, wie sich die Wächterin vorgestellt hatte, dass ein derartig langsam ausgeführter Schlag zu einem Treffer führen sollte. Die Antwort kam unmittelbar, als scharfe Krallen Lotus Schenkel streifen, aus einer Richtung, aus der er keine Krallen erwartet hatte. Unvermittelt fuhr Lotus herum. Die harte Pfote der Staubkatze direkt neben ihm schien zwar ihr Ziel dank Lotus' Satz auch nicht mit voller Wucht getroffen zu haben - schmerzhaft waren die Kratzer trotzdem. Der nächste Schlag folgte einen Wimpernschlag später. Lotus war nicht vorbereitet auf die Überzahl an Gegnern. Flink versuchte er, den Schlägen, die aus allen möglichen Richtungen zu kommen schienen, auszuweichen. In Bewegung zu bleiben. Lotus konnte spüren, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss, den Schmerz der Kratzer und Bisse unterdrückte. Das war er, der Rausch des Kampfes. Ein wenig vermisst hatte er ihn schon. Trotz des übermäßig defensiven Kampfstils, den Lotus an den Tag legte, und obwohl die Bewegungen der Staubkatzen verhältnismäßig langsam waren, konnte er nicht alle Verletzungen vermeiden. Immer wieder wurde Lotus von der Seite überrascht. Krallen trafen ihn an den Seiten, am Rücken, im Gesicht, mal stärker, mal schwächer. Bissen auszuweichen war einfacher, solche waren früher erkennbar. Die wenigen Schläge, die Lotus austeilte, schienen kaum Wirkung zu haben. Lotus bildete sich zwar ein, dass es irgendwann eine Staubkatze weniger war oder zwei, doch er war zu vertieft in den Kampf, um sich dessen sicher zu sein. Welche der Katzen 278 war, konnte er ebenso wenig erkennen. Immer wieder hatte er für einen Moment den Anschein, als hätte er sie ausmachen können, doch die Dynamik des Kampfes machte es schwer, ihrer Bewegung zu folgen. Lotus hatte ohnehin nicht das Ziel, sie schwer zu verletzen, und er legte seine Konzentration lieber in seine Verteidigung.
Lotus seufzte: "Du bist mir ein Rätsel, 093. 'Ich kann nichts tun, um mein Schicksal zu verändern, es ist ununstößlich' aber zur gleichen Zeit sagst du, du gibtst nicht auf. Die Zeit sei dein treuer Verbündeter, und gleichzeitig klagst du über die Ewigkeit. Ich kann dein Leid nicht begreifen, 093, da hast du wohl recht, wenn es so ist, wie du beschreibst." Lotus atmete tief durch. "In der Tat ist mein Kampf ein anderer als deiner. Ich hoffte, es wäre anders, für dich und für mich. Ich weiß zwar nicht, ob für immer in den Schatten bleiben und Trübsal blasen mein Modell der Langeweilebekämpfung wäre, aber was weiß ich schon. Ich habe nur neun Monate in den Schatten gelebt und zugesehen, wie die Gegenwart an mir vorbeizog. Zumindest bestätigst du mir, was mir diese Zeit gezeigt hat: Es ist nicht vielversprechend, darauf zu warten, dass das Glück zu einem kommt. Du musst aufstehen und danach suchen, danach streben, dafür kämpfen."
"Danke, 093, dass du mich an die Vergänglichkeit erinnerst. Man merkt richtig, wie sie dir fehlt. Selbst wenn ich einmal erreiche, was ich erreichen will, wird es bestimmt nicht für immer so bleiben. Warum es dann überhaupt versuchen, wenn es ohnehin vergeht? Warum morgens etwas essen und trinken, wenn wir doch Abends ohnehin wieder durstig und hungrig sind? Warum überhaupt aus dem Nest aufstehen, wenn wir doch Abends ohnehin wieder hineinsteigen? Hm? Erkläre es mir, 093? Warum jammerst du über das grausame Schicksal, wenn es doch auch nichts ändert?" "Ich lebe im Jetzt, 093. Ich will, dass morgen ein besserer Tag ist. Dass der nächste Mond ein besserer Mond ist, dass die nächste Blattgrüne eine bessere Blattgrüne ist. Schritt für Schritt. Natürlich will ich, dass das Labor in hundert Jahren ein Paradies ist und hundert Jahre später immer noch. Doch was in hundert Jahren ist, kann ich nicht planen. Deshalb tue ich das nicht. Doch nur, weil, egal was ich schaffe, irgendwann wieder zusammenbricht und im Chaos versinkt, gar nicht erst beginnen zu versuchen, das zu schaffen, ist eine wahrlich verzweifelte Ansicht, die nur von jemandem kommen kann, der aufgegeben hat.
Lotus konnte es förmlich spüren, das Feuer, dass in 278 hochglühte und drohte, in einem mächtigen Wutausbruch zu explodieren. Die Aussage darüber, dass sie wohl keine Freunde hätte, war ihr anscheinend zuviel. Jetzt stand sie mit ausgefahrenen Krallen vor ihm, kochte vor Wut und zischte ihm belangloses Zeug zu über Demütigung und keine Wahl zu. Gerne hätte Lotus ihr gesagt, dass sie damit nur ihre mentale Instabilität zur Schau stellte. Nicht einmal eine Stunde Wächterin und schon ist der Druck zu groß. Lotus Muskeln spannten sich an. Er wich einen Schritt zurück und bereitete sich auf 278 ersten Angriff vor. "War die Wahrheit zu viel für dich?" Ein spöttischer Unterton lag in Lotus Stimme. Er würde nicht rennen, nicht in diesem Moment. "Für wen kämpfst du nun, 278? Für das System, das nie in der Lage war, ohne Gewalt auszukommen? Oder für deine Freunde, von denen du denkst, ich hätte sie verletzt, obwohl du es warst, die gesagt hat, dass sie ihnen nicht vertraut? Keine Sorge, ich werde es 066 nicht erzählen. Oder kämpfst du vielleicht doch nur für dich und deinen verletzten Stolz?" Lotus fletschte die Zähne zu einem breiten Grinsen. Mit angespannten Muskeln und aufmerksamen Augen wartete er auf 278's ersten Schlag.
(Out: Ich denke mal, mehr kann Lotus nicht sagen, bevor er sich voll in den Kampf committen muss, deshalb lass ich es mal gut sein. Achso, auch wenn Lotus gerne alles sagen würde, was jetzt hier steht, ich kann dich natürlich nicht daran hindern, schon vorher auf ihn loszugehen. ;)
Das Gespräch mit 093 war noch nicht vorbei. Sie ergriff nun wieder das Wort und Lotus lauschte gespannt ihrer Antwort. Sein Angriff trug Frucht. Da war er, der brennende Funke, der von einem ungebrochenen Stolz sprach, der Geist der Kriegerin, er lebte. Lotus hatte gehofft, ihn aus dem schwarzen Engel der Dunkelheit herauslocken zu können, denn sie war es, die er sprechen wollte. Für einen Augenblick erlosch der Wahnsinn, der 093 unhüllt hatte. Sie erzählte von ihrem Leben, ihrem Standpunkt und ihrer Ansicht. Das war die Ehrlichkeit, nach der Lotus gesucht hatte. Auch wenn sich die Hoffnung, in 093 vielleicht eine Verbündete gefunden zu haben, wohl nicht erfüllen würde. "Ich zwinge dich nicht, eine Seite zu wählen." Lotus Stimme war wieder ruhig, sachlich. "Aber, wie du dir gerade selbst bewiesen hast, braucht es keine körperliche Stärke, um für das zu stehen, für das man steht.Auch wenn mir nicht klar ist, was das in deinem Fall ist."Es mag sein, dass sich die Welt für dich nicht um das Labor dreht. Doch für mich tut sie das, denn es ist das einzige, das ich kenne, das einzige, das mir etwas bedeutet; es ist mein Zuhause, eigentlich ist es auch deines. Ich habe nicht die Möglichkeit, einfach zu warten, bis sich vielleicht etwas ändert. Versteh, dass ich mein Leben und meine Leidenschaft dafür gebe, um das alles zu beschützen, um das Labor zu einem besseren Ort zu machen als es jetzt ist: Zu einem Ort von mehr Freundschaft und weniger Gewalt. Denn mich erfüllt es mit Freude, zu sehen, wie andere zufrieden sind, mich erfüllt es mit Wärme, wenn es den anderen ebenfalls gut geht. Und mich erfüllt es mit Zorn, wenn die einen die anderen quälen. Aus diesem Grund werde ich dagegen kämpfen. Wenn es dir Trost schenkt, zu sagen: 'In tausend Monden werden alle hier verschwunden sein, alle, die ich hasste, und alle, die ich liebte.' Ich freue mich für dich. Ich bedaure, dass dein Leben für dich sinnlos ist. Doch mein Leben, wie du so schön erwähntest, ist kurz, ist vergänglich und vielleicht ist es auch unbedeutend im Angesicht der Ewigkeit. Doch genau deshalb muss ich es nutzen, jetzt nutzen, denn wenn die Blüte einmal verwelkt ist, wird es zu spät sein für große Träume. Vielleicht erkennst du eines Tages, dass wir" [b]Lotus machte eine schweifende Geste durch den Raum "dass wir nicht einfach alles so hinnehmen können, wie es ist. Wir leben nicht ewig, 093." [/b]
"Wirklich?" Lotus ging einen entschiedenen Schritt in Richtung der schwarzen Katze. "Du... hast aufgegeben? Du bist nicht bereit, für das zu kämpfen, für das du stehst? Weil du für nichts stehst?" Ein weiterer Schritt. "Du siehst zu, wie das System grundlos Katze für Katze abschlachtet, schürst deinen Hass an 001 und seinen Anhängern, und ziehst dann den Schwanz ein, verkriechst dich einer schattigen Ecke?" Noch ein Schritt. "Und wunderst dich dann, dass dich niemand sieht? Bezeichnest diejenigen, die dich in deiner Feigheit nicht wahrnehmen, als dumm und blind?" Lotus stand jetzt direkt vor 093, seine Schnauze weniger als eine Pfotenbreite von der ihren entfernt. "Wo ist die Kriegerin, die du behauptest gewesen zu sein? Es ist eine Schande, sein eigenes Erbe so unnachsichtig in den Dreck zu werfen, und dann noch so zu tun, als wüsste man, was einen Krieger ausmacht. Wenn ich sie wäre, diese Kriegerin, und wüsste, dass dieses armselige Häufchen Elend ohne Identität, ohne Ziel und ohne Willen das ist, was aus mir werden würde, ich würde mich dafür schämen, dass es so tut, als wäre es einmal ich gewesen." Lotus wandte seinen Blick ab und ging bewusst kollisionsfreudig an Alma vorbei, ehe er neben ihr noch einmal stehen blieb. Eine Spur Enttäuschung mischte sich in Lotus Stimme: "Ich bin überzeugt, dass 001 auch für seine Ideale kämpfte, selbst wenn diese Ideale nicht den meinen entsprechen. Doch man kann kein großer Krieger sein, wenn man für nichts kämpft. Es wird wohl das beste sein, wenn du in deinem dunklen, schattigen Eck bleibst, wo dich niemand sehen kann. Der Kampf, ob mit Worten oder mit Krallen, ist nur etwas für Krieger. Und du bist anscheinend keiner."
Lotus legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. "Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Womit soll ich dir abgesprochen haben, dass du ein Herz hast? Wieso zweifeln andere daran, dass in dir ein Herz schlägt? Woher sollte deine brennende Abneigung gegen 001 denn kommen, wenn nicht von Herzen?" Es ergab keinen Sinn, was die schwarze Katze redete. "Aber du hast Recht. Ohne Gewalt wird sich das System nicht bekämpfen lassen. Doch diese Gewalt ist nicht sinnlos. Sie hat einen Zweck. Sie hilft uns, den Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Und außerdem sind nicht wir es, die mit Gewalt anfingen. Wir kämpfen mit Gewalt, wenn es nötig ist. Nicht, weil es uns gefällt, Katzen zu verletzen." "Was soll das heißen, wir sind nicht auf derselben Seite?"
Sidenote: Möglicherweise für alle anwesenden Katzen hörbar ;-)
"Nenne es, wie du willst. Traum, Utopie, Vision. Es ist mir egal. Natürlich ist es nicht die Realität. Die Realität ist: 'Wer heute dein Freund ist, kann dir schon morgen eine Kralle in den Rücken bohren.' Sagte eine Katze kürzlich, die ich für intelligent genug hielt, die Welt zu verstehen. Und was hat dafür gesorgt, dass es so ist? Mondelange Anarchie? Sicherlich, da würde es wohl kaum besser aussehen als jetzt. Doch wo ist die Sicherheit, von der du sprichst? Die Ordnung? Dauernd sterben Katzen, weil die, die du verteidigst, Gefallen daran finden, sie zu quälen und zu töten. Und hättest du in deinem Leben jemals einen Freund gehabt, dann wüsstest du, dass ein wahrer Freund dir niemals morgen eine Kralle in den Rücken bohren würde. Ich bedauere dich dafür, 278." "Das System sorgt nicht für Frieden. Vielleicht versucht ihr es, aber schaut euch an, was wir haben. Hätten wir Frieden, 278, dann wäre nicht heute morgen ein Vater und Anführer gefallen, heimtückisch ermordet. Hätten wir Frieden, hätten wir Zufriedenheit, würde dieses Feuer nicht brennen, junge Wächterin. Die "Ordnung", die in deiner fantastischen Welt existiert, sie konnte 001 nicht retten, sie war vielleicht sogar die Ursache für seinen Tod. Ehre, Freundschaft und Vertrauen - sie hätten ihn retten können." "Was ist der Grund dafür, dass ihr diese Werte - Ehre, Freundschaft, Vertrauen, Liebe, Freiheit - als das Böse auf der Welt darstellt? Gewalt ist schon nicht die Antwort auf alles, und auf keinen Fall ist es die Lösung der Probleme, die das Labor hat. Gewalt ist das Kind des Chaos, und ihr verkauft es als Mittel zu Ordnung. Wie soll das funktionieren? Versteh mich nicht falsch, ich verabscheue den Mörder 001, der wie ein Vater für mich war, obwohl er mir nicht besonders nahe stand. Aber noch mehr verabscheue ich die Ignoranz für die Zustände, die seinen Tod verursacht haben. Er hat etwas besseres verdient als als Rechtfertigung für die Fortsetzung der Gewalt, die ihn getötet hat, missbraucht zu werden." Lotus hielt inne. Er war laut geworden. Er trat einen Schritt zurück; ein Vorwand, um sich kurz umzublicken und erleichtert festzustellen, dass nicht mehr allzu viele Katzen in der Nähe waren, um ihn gehört zu haben. Dennoch, es hatten wohl Katzen gehört, die es besser nicht gehört hätten. Gerade eben hatte er 066 noch gesehen, 200 war auch nicht weit und 110... doch jetzt war es zu spät. Die Maske war gefallen. An 613 und das Junge gewandt sagte er noch: "Lass euch nicht zur Gewalt verführen - egal für welche Seite ihr kämpft. Gewalt ist niemals das richtige Ideal."
(Out: @Shahar@Icespark Lotus würde an dieser Stelle das Gespräch verlassen. Wenn Calliope noch etwas (kurzes, vllt ein paar Sätze) sagen will, vielleicht könnte man das außerhalb der Postreihenfolge machen, sodass es Lotus noch mitbekommt, bevor er weg ist - danach ist Postreihenfolge ohnehin unwichtig. Ansonsten @Shahar schreib mir vielleicht, dass 278 erstmal nichts mehr dazu sagt, dann kann ich das Ende entsprechend editieren und festmachen, dass Lotus das Gespräch verlässt. Danke ;-))
Lotus Unbehagen wuchs mit jedem Schritt, den 769 in Richtung der Kanalisation machte, vergrößerte sich mit jeder Fuchslänge, die der Eingang näher zu Lotus kam. Ohne lange zu zögern betrat 769 den stinkenden Gang, aus dem vorhin noch undefinierbare Geräusche ertönt waren. "Komm raus, komm raus." Vorsichtig und zögerlich trat auch Lotus in den verbotenen Gang, von dem es hieß, dass er aus dem Labor führen sollte - nicht, dass es sein Ziel war, das Labor zu verlassen, es war immerhin sein Zuhause. Es war nur... Er nahm einen tiefen Atemzug und riss sich zusammen. Würde er 769 nicht folgen, würde er ihm einen Grund geben, ihn als Feiglich zu bezeichnen. Angst vor einem einfachen, dunklen Gang? Was konnte schon passieren. Gerade noch sah Lotus die Hinterbeine von 769 um eine Ecke verschwinden. Eilig tapste Lotus hinterher, bemüht, eine angemessene Balance zwischen Geschwindigkeit und geringer Lautstärke seiner Schritte zu finden. "Was machst du hier draußen? Das ist nicht das Labor, du gehörst hier nicht hin." 769 Stimme klang - verwundert. Als hätte er sich den Satz zuvor zurecht gelegt, doch jetzt passte er irgendwie nicht mehr ganz in die Situation. Lotus beschleunigte seine Schritte. Er erreichte die Ecke, hinter der 769 sitzen musste und lugte vorsichtig herum, vorbereitet, dass 769 ihn aus dem Hinterhalt anspringen könnte. Doch dieser war vollständig fokussiert auf etwas, dass dort am Ende des Ganges lag. Lotus kniff die Augen zusammen. Wer oder was war die dunkle Gestalt?
Lotus nickte sanft, während er Yuna's Worten lauschte. Im Großen und Ganzen schien sie ihm zwar zuzustimmen, und doch war sie der Meinung war, sie würde vermutlich nicht an Engel glauben können. "Selbst wenn du nicht an sie glaubst, sind sie da, um Trost zu spenden, wenn du solchen gebrauchen kannst. Nur" Lotus stockte kurz. "man wird sich wohl kaum getröstet fühlen, wenn man sie nicht sieht." Langsam schien Lotus wieder ein wenig aus der Nachdenklichkeit aufzuwachen. Wie lange war es schon her, seit dem er so seine Gedanken offen geteilt hatte - Gedanken, die ihm recht persönlich waren? Es war sehr angenehm, in einem tiefen Vertrauen mit einer anderen Katze zu sprechen, aber warum genau vertraute er der weißen Katze überhaupt? Er wusste noch nicht einmal... "Wie ist eigentlich dein Name?"
Das ist alles? Lotus war ein wenig enttäuscht über die Geschichte, denn da war nichts, das er nicht bereits wusste. 001 hatte immerhin seine Grausamkeit nie versteckt, es lag also auf der Hand, dass jeglicher Widerstand auch zu früheren Zeiten schon mit Gewalt niedergeschlagen worden war. Jeder, der sich nicht 001 anschloss, war ein Verräter des Königs und wurde bestraft. Wunderte es Lotus, dass diese Strafen gewaltsam und manchmal tödlich gewesen sein sollten? Absolut nicht. Die Grausamkeit zu übersehen war im Labor nicht möglich, außer vielleicht man trug den Namen Haru. Plötzlich fragte sich Lotus, warum ihn das eigentlich interessierte. Hatte er gehofft, die Machtergreifung des verstorbenen Anführers sei nicht mit rechten Dingen zugegangen, um einen Grund zu finden, gegen das System zu stehen? Die Grausamkeit, die danach noch existiert hatte und immer noch existierte war doch Grund genug. Die Gefangenschaft, die die Wächter über die gewöhnlichen Experimente ausübten. Die willkürliche Gewalt, die manche Katzen im Labor auf andere anwandten. Es reichte, um aufzustehen, und hier schien Lotus eine Chance auf einen wertvollen Anhänger gefunden zu haben. Unglücklich, dass 093 nicht 001 ermordet hatte. Dann hätte er gewusst, wen er beschützen musste... "Welche Ordnung soll das sein, die hier existiert? Katzen verletzen andere ohne Grund, nur steht 001 auf dem Banner und Verräter auf der Stirn des Opfers und deshalb wird es Ordnung genannt? 001 hat die Augen geschlossen, hat weggesehen, während andere in seinem Namen Chaos verbreitet haben und es als Ordnung verkauften." Lotus hielt inne und beruhigte sich wieder ein bisschen, bevor er fortfuhr: "Ich weiß nicht, ob es Ordnung ist, die ich mir wünsche. Doch ich finde, das Ehrgefühl, das hier im Labor existiert - es ist falsch. Ehre ist nichts wert, Gerechtigkeit hat keinen Angriffspunkt und das macht das Labor zu einem grauen, grausamen Ort, von dem viele nur weg wollen, aber nicht können."
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