Rufname Tomie Alter 18 Herkunft Stratos City Beruf Trainer
Pokémon-Team: /
W A S B I S H E R G E S C H A H . . .
post#1 - nancy:
Welchen Ort sollte man aufsuchen, wenn das einzige Zuhause, das man besaß, nicht länger den Namen Zuhause trug? Die Last wog schwer auf ihren Schultern; natürlich war es keine physische Last, nein, viel eher glich es einem wilden Bündel aus Emotionen und Gedanken. Vorwürfe. Den Schritt, den sie getan hatte, als sie das Geld ihres Vaters gestohlen und der Wohnung entflohen war, in welchem sie ihre Kindheit, ihre Jugend verbracht hatte, war endgültig gewesen. Die Möglichkeit, zurückzukehren, bestand nicht länger – zurück nach Hause[i] zu gehen, würde für sie bedeuten, dass sie (womöglich draufgehen) das Tageslicht nicht länger erblicken würde. Ihr Vater würde dafür sorgen, dass sein [i]kleines Mädchen nie wieder den Einfall haben würde, ihm zu entlaufen. Nein, sie durfte über eine Heimkehr nicht länger nachdenken – ihr Handeln war berechtigt gewesen, ein Zuhause gab es für sie fortan nicht mehr. Würde sie leben wollen, so müsse sie diesem Ort entkommen. Raus aus der Stadt, oh ja. Sie wollte sich nicht ausmalen, was ihr Vater tun würde, wenn er sie hier irgendwo antreffen würde. Ihr Blick glitt auf ihre Armbanduhr. Eine Stunde war vergangen, seitdem sie ihr Elternhaus verlassen und sich auf den Weg hinaus aus Stratos City gemacht hat. Sie hatte es nicht gewagt, eines der Taxen oder Busse im Stadtinneren aufzusuchen (ja, was, wenn sie dort jemand sah, der ihren Vater kannte? Zu solch später Stund?), stattdessen hatte sie die Strecke zu Fuß zurückgelegt. Hatte sie richtig gehandelt? Immerhin liebte ihr Vater sie, ja, das tat er, trotz der Grässlichkeiten, die er ihr angetan hatte. Was, wenn sein Herz zerbrach? Nancy, du hast das Richtige getan, ertönte da die sanfte Stimme ihrer Freundin. Jedes Mal, wenn sie ihre Worte vernahm, fühlte sie sich an die bezaubernden Klänge einer Harfe erinnert. Bisher war sie auch die Einzige gewesen, zu der das Psiana gesprochen hatte – sich in ihren Kopf geschlichen und ihr Leid geteilt hatte. Es hörte ihre Gedanken zwar nicht, doch empfand es eine solch starke Empathie, dass es das auch nicht können musste, um zu wissen, was in seiner Besitzerin vor sich ging. Karma, so lautete ihr Name, war der einzige Halt, den die junge Frau fortan besaß. Ihr einziger Schutz. Nancy konnte sie zwar nicht sehen – das pastellrosane Pokémon befand sich in dem Stoffrucksack, welchen sie auf den Schultern trug, den Reißverschluss jedoch nicht vollkommen zugezogen, sodass sich Karma eine kleine Öffnung bot – aber spürte sie, wie sie den kleinen, katzenähnlichen Kopf herausstreckte und sie eines sanften Blickes betrachtete. Ungewollt entfloh dem Mädchen ein leichtes Seufzen. Sie hatte Recht; jedenfalls redete sie sich das ein. Ihr Vater war nicht länger die Quelle des Schutzes, des Vertrauens. Das war er schon seit dem Tod ihrer Mutter vor vielen Jahren nicht gewesen. Doch war in ihr die Hoffnung gekeimt, er würde sich ändern, dass er die Dinge, die er getan hatte, nur aus Liebe tat – diese Hoffnung war über die Zeit hinweg gewachsen. Und dann, wie ein Axthieb, hatte der Mann, der sie aufgezogen hatte, diese Hoffnung niedergemäht. Es gab keine Aussicht auf Besserung. Die einzige Möglichkeit, auch ihr Psiana vor Leid zu bewahren, war die Flucht gewesen. Nun gab es nur noch die Beiden – ein eingespieltes Team. Freundinnen. Nancy schlang die Arme um ihre Brust. Es hatte zu nieseln begonnen und die feinen, kalten Tröpfen, die ihren Nacken hinabrannen, ließen sie frösteln. Das Stadtinnere lag nun bereits hinter ihnen. Hier draußen hatte die Natur bereits begonnen, Überhand zu nehmen – die verlassene, breite Straße war umsäumt von Dickicht und Bäumen, deren kahlen Äste wie magere Arme hoch über Nancy‘s Kopf hinwegragten. Vereinzelte Laternen erleuchteten ihren Weg; die ein oder andere Lampe flackerte unheimlich, als wäre die Präsenz von dem Mädchen und ihrem Psiana nicht die einzige, die hier ihr Unwesen trieb. War diese Vorstellung denn gar so verwerflich? Sicherlich mussten sich hier draußen auch die ein oder anderen verwilderten Pokémon befinden; weshalb also auch nicht jene des Geistertypes, die ihre Spielchen mit den Reisenden spielten? Dieser Gedanke ließ die feinen Härchen auf Nancy‘s Haut aufstellen. Würde ein wildes Pokémon auf die Idee kommen, die Beiden anzugreifen, so würden ihre Gewinnchancen – angesichts der Tatsache, dass Karma ein Wettbewerbs- und kein Kampfpokémon war – wahrscheinlich nicht allzu gut stehen. Um ihrer eigenen Angst zu entkommen, verwarf sie diesen Gedanken augenblicklich und verweilte stattdessen an einer Abzweigung. Der Pfad, der hier hinwegführte, war schmal und ungepflastert; nahezu verwildert. In der Ferne, zwischen den Stämmen der Laubbäume, meinte Nancy, Lichter zu entdecken. Wir sollten auf der Straße bleiben, erklang Karma‘s Stimme in ihren Gedanken, Dieser Weg scheint mir nicht geheuer. »Du hast Recht«, erwiderte Nancy leise und wandte sich ab. Die Option mit den Straßenlaternen war ihr ohnehin vertrauenswürdiger. So also folgte sie dem weiteren Verlauf der Straße; nicht allzu lang jedoch, denn da entdeckte sie glücklicherweise die kleine Unterstellmöglichkeit einer Bushaltestelle. Allein die Aussicht darauf, dort zumindest Schutz vor dem Regen zu finden, ließ ihr Herz leichter werden. Beim Näherkommen stellte sie allerdings fest, dass sie wohl nicht die Einzige war, die einen solchen Einfall hatte. Unter der kleinen, schwach beleuchteten Überdachung stand eine schlanke Gestalt – eine junge Frau, deren langen, schwarzen Haarsträhnen das hübsche Gesicht umrahmten und so einen starken Kontrast zu der blassen Haut bildeten. Nancy zögerte zunächst (wer wusste schon, wer sich hier draußen herumtrieb?) schlussfolgerte dann jedoch, dass das Mädchen womöglich die selben Absichten besaß und schlichtweg diese gottverdammte Stadt verlassen wollte. So also stellte sie sich ebenfalls unter und schenkte der Fremden ein aufgesetzt freundliches Lächeln. »Auch auf der Durchreise?«, meinte sie dann schließlich; ihre höflichen Worte wurden von einem sanften Unterton begleitet.
post#2 - tomie:
Noch nicht all zulange ist es her, dass die dem Waisenhaus den Rücken gekehrt hatte. Genau genommen waren seither wenige Minuten vergangen seitdem sie durch jene sperrige Holztüren in die Freiheit geflüchtet war. Lange Zeit hatte sie diese Einrichtung als ihr Zuhause bezeichnen müssen, gut behütet hatte sie sich jedoch nie gefühlt, was vor allem an dem Gesindel lag, dass zusammen mit ihr in diesem Gebäude beherbergt wurde. Gesindel. Anders konnte man es nicht beschreiben. Grausame Kinder, deren Schicksal dem von Tomie glich. Sie alle waren Flüchtende, manche flohen vor der Gewalt, andere von der Realität. Einzig und alleine sie selbst hatte mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen, auch wenn sie ihrem Vater niemals verzeihen können würde. Nichts und niemand konnte sein Verhalten rechtfertigen. Es gab keine Entschuldigung für Missbrauch. Das Mädchen straffte die Schultern, warf ihr langes Haar über die Schultern und hob den Kopf. Doch das alles endete nun. Seitdem sie das Waisenhaus nicht mehr als ihren Wohnsitz betiteln konnte, hatte sie sich neue Maßstäbe gesetzt. Sie würde fortan nicht mehr an den Haufen Affen denken, ihre Eltern aus ihrem Gedächtnis streichen und endlich auf Wanderschaft gehen, um zu finden, was sie seit Jahren so verzweifelt suchte. Einen Sinn. Alles was sie sich wünschte, war ein Sinn in ihrem Leben. Früher war sie ein Boxsack gewesen, dann der Sündenbock und nun war sie einfach nur Tomie. Doch wer war dieses sonderbare Mädchen überhaupt? Manchmal konnte sie sich diese Frage selbst nicht beantworten. Die Grenzen zwischen dem, was sie für andere sein wollte und dem, was sie eigentlich war, sind seit Jahren verschwommen.
Ein neues Abenteuer stand bevor, auch wenn dies damit anfing, dass sie erst einmal in eine Pfütze stapfte und dabei ihre Schuhe beschmutzte. Das Mädchen musste dem Drang widerstehen, sich sofort zu bücken und die Schmutzflecken zu entfernen. Handtuch oder Taschentuch besaß sie keines, weshalb sie diese Qual stumm ertragen muss. Mit steinerner Miene und schmerzendem Herzen stand sie an der Bushaltestelle und wartete darauf, dass der blecherne Retter endlich kam, um sie aus ihrem Exil zu holen. Doch er kam nicht. Jede weitere Minute fühle sich wie Folter an, zerrte an ihren Nerven und ließ sie unruhig auf der Stelle treten. Scheinbar war das Mädchen eine Katze. Dass es auch noch begonnen hatte zu nieseln, besserte ihre Laune nicht. Natürlich könnte sie auch beim Waisenhaus Unterschlupf suchen, doch die Gefahr schien zu groß, den Bus verpassen zu können. Außerdem musste nur die falsche Person auftauchen und ihr Tag würde endgültig ruiniert sein. Die Schwarzhaarige würde erst feiern, wenn die ganzen Idioten weit, weit hinter ihr lagen und sie damit die grässlichen Visagen aus ihrem Gedächtnis verbannen konnte. Die Bushütte bot leider nicht allzu großen Schutz vor der Nässe, denn der Wind schleuderte ihr die Tropfen dennoch entgegen. Wenn die Erdanziehungskraft wenigstens einmal zu ihrem Vorteil spielen würde...
Man konnte leider nicht alles haben und Tomie, ja Tomie hatte nichts. Da ihr Haus abgebrannt ist - was für eine Tragödie -, hatten ihr ihre Eltern auch nichts hinterlassen. Keine Kleidung, kein angespartes Geld. Nichts. Aus dem selben Grund war sie wahrscheinlich auch in genau diesem Waisenhaus gelandet. Das Haus der bettelarmen Kinder, denen das Leben ordentlich in die Suppe gespuckt hatte. Doch nun war nicht die Zeit für Selbstmitleid, weshalb sie auch alle Sorgen aus ihren Gedanken verbannte und stattdessen nach vorne sah. Es boten ihr unendlich viele Möglichkeiten. Beispielsweise könnte sie sich mit einem Pokemon anfreunden, welches ihr dann überall hinfolgen würde. Ein echter Freund. Jemanden, den sie nach all den Jahren bitter nötig hatte. Trotz allem war dies nur ein Wunschdenken, auch wenn das Mädchen davon überzeugt war, ihr Leben nun endlich selbst in die Hand zu nehmen. Zugegeben, sie wusste noch nicht so recht, wie sie das anstellen würde, doch sie hatte die Schönheit und die Intelligenz, um wenigstens andere für sich zu gewinnen. Eine der wenigen Sache, für die sie dankbar war.
Das leise knirschen von Steinen ließ das Mädchen zusammenfahren und erschrocken den Kopf heben. Ein Mädchen mit wallendem, blondem Haar hatte sich hierher verirrt. Ihre Augen waren das zweite, was Tomie auffiel. Sie glänzten in einem schönen Goldton, sodass sich die Schwarzhaarige beinahe schäbig neben dem augenscheinlich reichen Mädchen vorkam. Ihr Griff um den Stoffbeutel wurde fester, sodass ihre Fingerknöchel auffällig weiß aufleuchteten. "Sprich mich nicht an, sprich mich nicht an. Sprich mi- Verdammt." Für gewöhnlich hatte sie nichts gegen Sozialkontakt, doch sie wollte nicht unbedingt mit der Schnöseltante sprechen, die bestimmt gedanklich gerade mit einer Kanalratte verglich. Tomie besaß keinen pompösen, glitzernden Schmuck, der schrie "Hey ich bin reich, seht mich alle an!", sie kleidete schlicht, gewöhnlich, fast schon langweilig und kleisterte sich das Gesicht mit Make-Up zu, nicht dass sie dazu überhaupt das Geld hatte. Die letzte Wimperntusche und den letzten Lippgloss hatte sie geschenkt bekommen, auch wenn sie sich dabei nicht ganz sicher war, ob diese Dinge nicht geklaut waren.
Instinktiv übernahm eine andere Persönlichkeit, da das Mädchen zu schockiert war, um zu reagieren. Sofort verfiel sie in eine andere Haltung, die Schultern hängen gelassen und leicht nach vorne geneigt, ein überlegenes Lächeln auf ihren vollen Lippen. Eine Hand stützte sie in ihre Seite und mit der anderen tippte sie sich auf das Kinn, gleichzeitig mit den Augen rollend. "Ne Püppchen, ich steh hier nur in der Pampa damit du was zum Fragen hast." Genervt stöhnte sie auf und warf ihre Haare über ihren Rücken. "Und was ist mit dir? Kommst hier her zum Betteln oder was? Zieh leine, du bist hier nicht erwünscht." Erschrocken trat das Mädchen einen Schritt zurück und schlug eine Hand auf den Mund. Aus großen Augen sah sie die Fremde an und verfluchte sich selbst. Was sollte sie nun tun? Sich auf den Boden werfen und Vergebung betteln? Schnell straffte die Schwarzhaarige wieder die Schultern und strich ihren schwarzen Rock glatt. "Das war ein Scherz, natürlich, haha!" Nervös strich sie sich durch ihr glattes Haar und heftete anschließend ihren Blick auf ihre Schuhe, welche immer noch dreckig waren. Angeekelt verzog sie das Gesicht. "Durchreise kann man es nicht nennen, denke ich, denn meine Reise beginnt erst. Und was machst du hier?"
post#3 - nancy:
An jener Bushaltestelle trafen also zwei Welten aufeinander – die Schönheit der Reichen und die bittersüße Eleganz der Armut. Als Nancy die Fremde erreicht und somit nahe genug war, um sie analysieren zu können (natürlich tat sie das nicht auffällig; auf keinen Fall scannte sie das Mädchen wie ein billiges Stück Fleisch ab) und sich zusammenreimen zu können, welcher Herkunft sie denn war. Sie trug schlichte Klamotten (das Mindeste, das man in der Unterschicht in die Finger bekam), doch hatte sie diese so kombiniert, dass ihr Sinn für Mode durchaus zur Geltung kam. Nein, es war ihr nicht vollkommen egal, wie sie sich Anderen zur Schau stellte; und das glattgekämmte, vom Regen etwas feuchte Haar deutete darauf hin, dass sie selbst als ein Teil der niederen Klasse jedes Mittel ausnutzte, um ein ordentliches, gepflegtes Äußeres aufweisen zu können. Die Tatsache, dass ihr Blick immer wieder reflexartig zu ihren befleckten Schuhen glitt und ihr Gesichtsausdruck dabei eine gewisse Anspannung aufwies, belegte diese Theorie lediglich. Ja, aber wie kam Nancy denn auf die Schlussfolgerung, die Fremde gehöre der Unterschicht an? Es war nicht die Art der Kleidung, die sie trug (natürlich sah man ihnen an, dass sie das Produkt einer billigen Massenanfertigung waren; doch kannte Nancy einige Geizhälse, die eben solche Kleidung aus Spargründen kauften und ihr Geld heimlich in etwaige andere Dinge reinstopften) oder die dreckigen Schuhe – nein, die Antwort auf diese unausgesprochene Frage lag in den Augen des Mädchens.
Sie alle waren Menschen; oh ja, diesen Grundsatz pflegte die Unterschicht immer dann auszurufen, wenn sie sich im Vergleich zu den Wohlhabenden ungerecht behandelt fühlten. Tief in ihrem Inneren seien sie doch alle gleich; jeder von ihnen besaß denselben Ursprung. Und doch war die Kluft, die zwischen der Ober- und der Unterklasse klaffte, breiter und tiefer, als dass es manche zuzugeben vermochten. Es lag in den Augen der Leute; in den sogenannten Seelenspiegeln. Tatsächlich sprachen sie, obgleich keine Worte fielen; äußerten Gedanken, die man gar nicht zu äußern wagte. Nancy hatte diesen Ausdruck schon oft gesehen, war ihr bereits in frühen Jahren aufgefallen: jedes Mal dann, wenn sie ein Restaurant besuchten und der Kellner sie abwertenden Blickes musterte, wenn die neu eingestellte Haushälterin begann, die Wohnung aufzuräumen und die teuren Vasen mit einer Mimik abstaubten, die darlegte, wie verdammt unfair das Leben doch war. Ja, das Leben war durchaus unfair. Einige wurden mit Grundlagen in die Welt geboren, die ihnen eine angenehme Zukunft bescherten, während andere zusehen mussten, dass sie sich heil aus der Scheiße gruben. Jene Blicke hatten Nancy nahezu ihr gesamtes Leben begleitet – und sie alle besaßen denselben Standpunkt. Hass, Abwertung, Neid. Einige verachteten sie, weil sie meinte, sie wäre in ein bequemes Dasein hineingeboren worden, ohne auch nur den Deut einer Ahnung zu haben, was sich hinter der Tür ihres Apartments abspielte – dass sie sich nie auf dieselbe Weise die Hände würde schmutzig machen müssen wie die hart arbeitenden Arbeiter auf den zahlreichen Baustellen. Natürlich hatten sie nicht ganz Unrecht; Nancy würde sich nie durch Dreck wühlen müssen, um an ihr Geld zu kommen. Doch wenn ihr Leben so verdammt bequem wäre, wie man es ihr vorwarf, würde sie dann an dieser gottverlassenen Bushaltestelle stehen?
Ihr missfiel jener Ausdruck, der sich da über das Gesicht der Schwarzhaarigen stahl. Sie war mit der Einstellung an die Sache rangegangen, eine freundliche Konversation zu beginnen (nun gut, mehr geheuchelt als aufrichtig; doch hey, wer hatte schon Bock drauf, wie ein Stück Scheiße angesehen zu werden?) und zu ermitteln, inwieweit sie diese neue Begegnung zu ihrem Vorteil würde nützen können. Vielleicht kannte sie sich in diese Gegend ja auch? Oder kannte einen Ort, an welchem Nancy erstmal untertauchen würde können? Untertauchen. Was für ein befremdliches Wort – es hatte etwas falsches, nahezu kriminelles an sich, so als wäre Nancy nicht einfach von Zuhause ausgerissen, sondern würde tief in irgendeine Drogensgeschichte verstrickt sein. Aber wer wusste schon, was die Zukunft so bot? Sie befand sich am Rande einer Klippe, schwankte zwischen festem Boden und vollkommenem Absturz. Wer wusste also schon, ob sie in den kommenden Tagen nicht irgendwo in der Gosse enden würde, ausgeknockt von Drogen, Alk und was auch immer für einem Zeug. Wahrlich, ein finsterer und pessimistischer Gedanke, dem der gewisse Grad an Realismus fehlte. Denn allein die Vorstellung, sich eine Nadel mit irgendeinem Obdachlosen teilen zu müssen, ließ ihr einen Schauer des Ekels über den Rücken gleiten. Nein, diesem Schicksal würde sie sich nicht hingeben. Außerdem war sie ja nicht obdachlos, sondern viel eher eine Reisende, die sich mit dem Angesparten ihres Vaters aus dem Staub gemacht hat. Hah, das hatte doch einen viel angenehmeren Klang. Während sich dieser gesamte Gedankengang ereignete, hatte Nancy darauf bestanden, das sanfte Lächeln auf ihren Lippen beizubehalten. Die Fremde musste nicht wissen, was ihr gerade wirklich durch den Kopf ging und mit welchen tatsächlichen Absichten sie dieses Gespräch gestartet hatte. Schuldgefühle überkamen sie dabei keine; das Mädchen war Mittel zum Zweck, sie würde ihr in diesem neuen Abschnitt ihres Lebens ein Helfer von zumindest kurzer Dauer sein. Die Blonde hatte ihre Mitmenschen für weitaus schwerwiegendere Dinge ausgenutzt.
Die Reaktion der Fremden überraschte sie jedoch stärker, als erwartet – nein, es schockierte sie gar. Bei den barschen Worten, die diesen hübschen Mund verließen, machte sie einen kleinen Schritt zurück. Oh Gott, auf was für eine Gestörte war sie denn hier gestoßen? Das Lächeln hatte ihr Gesicht nicht verlassen, doch besaß es jetzt einen recht eingefrorenen Ausdruck. Püppchen. Für gewöhnlich ein Name, welcher ihr von Männern gegeben wurde, die ihr an die Wäsche wollten. Sie verspürte sachte Bewegungen auf ihrem Rücken – einen kleinen Körper, der sich in ihrem Rucksack wand und aus der Öffnung zwängte, um mit dem rosanen Kopf über die Schulter des Mädchen nachsehen zu können, wer ihre Besitzerin da so grob ansprach. Sei vorsichtig, erklang die skeptische Stimme ihres Psianas in ihren Gedanken, Die könnte durchaus gefährlich sein. So also gab sie der Schwarzhaarigen mit einem leichten Nicken zu verstehen, dass sie verstanden hatte (das einzige Anzeichen, das ihren Schock über deren höchst unfreundlichen Verhalten Ausdruck darlegte, war das kurze Zucken ihres Mundwinkels) und wandte sich schließlich ab. Hoffentlich würde die Fremde nicht auf die Idee kommen, sie vollkommen von der Bushaltestelle zu verjagen (oh Gott, und wenn sie ein Messer bei sich hatte?), denn dann konnte Nancy zusehen, wie sie zu Fuß in die nächste Stadt kam. Aber dann folgte die nächste Überraschung: eine Entschuldigung. Die Worte des Mädchens hatten urplötzlich einen vollkommen anderen Klang; so anders gar, dass Nancy ihr zunächst einen prüfenden Seitenblick zuwarf. Wurde sie verarscht? Aber nein, die Entschuldigung klang aufrichtig, und die Nervosität, die das Gesicht der Anderen prägte, wirkte zu echt, als dass sie es hätte spielen können. Ein Scherz also – wie außerordentlich schlecht er doch war. So also drehte sie sich ihr wieder zu und setzte das altbekannte, offenherzige Schmunzeln auf. »Ich komme gerade aus der Stadt; es gibt nichts mehr, was mich dort hält.« Höflich streckte sie der Fremden ihre zierliche Hand hin. »Deswegen möchten wir mit dem nächsten Bus Reißaus nehmen. Das hier ist Karma- Es folgte ein rasches Nicken in Richtung des Psianas, das immer noch skeptisch über ihre Schulter lugte, »- und mein Name ist Nancy.«
post#4 - tomie:
Das hübsche Gesicht der Fremden verzerrte sich und ihr Mund formte ein stummes "Oh", bevor sie abwehrend die Arme hob und einen Schritt zurücktrat. Tomies Herz überschlug sich. Immer wieder krampfte es leicht, da sie sich Vorwürfe machte, doch gleichzeitig konnte sie nichts dafür. Sie war eine Gefangene. Doch es gab einfach keinen Ausweg, das hatte sie im Laufe der Jahre akzeptiert, auch wenn dieser Gedanke immer wieder in ihrem Kopf auftauchte. Das Gesicht des Mädchens fror für einen kurzen Moment ein. Offenbar haben ihre Worte einen wunden Punkt getroffen, weshalb es ihr doppelt leidtat. Plötzlich fing der Rucksack auf dem Rücken des Mädchens an zu wackeln bis schließlich ein rosa Kopf hinter ihrer Schulter hervorlugte. Ein Psiana. Ein kurzes Lächeln huschte über die Lippen der Schwarzhaarigen. Sie liebte Pokémon, Evoli und seine Entwicklungen ganz besonders. War es Schicksal, dass sie ausgerechnet jetzt diesem Mädchen zu begegnen? Eventuell war es nicht allzu klug, etwas in ihr Erscheinen hineinzuinterpretieren. Dass die Fremde nicht kreischend die Flucht ergriffen hatte, grenzte für sie beinahe an ein Wunder. Die meisten nahmen Reißaus sobald sie Bekanntschaft mit ihnen machten. Deswegen überraschte es Tomie um so mehr, dass das Mädchen ihre Bemerkungen achtlos beiseiteschob und ihr lediglich einen skeptischen Seitenblick zuwarf, ehe sie ihr freundlich die Hand entgegenstreckte. Vollkommen schockiert musterte die Schwarzhaarige die Hand, als hätte sie dies noch nie in ihrem Leben gesehen. Innerlich verfluchte sie sich, dass sie sich derartig seltsam und danebenbenahm. Schwer schluckte die Waise und streckte dann zögerlich ihre eigene Hand aus, um die der Fremden sanft, aber bestimmt zu umgreifen und dann zu schütteln. Ein schüchternes Lächeln huschte über ihre Züge und sie bemühte sich, dem Blick ihres Gegenübers auszuweichen. Schnell ließ sie wieder los und trat einen Schritt zurück.
Nancy also. Und Karma. Sie bemühte sich sehr, um ihr dieselbe Fairness zu bieten, die sie ihr bot, weshalb sie das Mädchen nicht sofort in eine Schublade mit den anderen Gestopften steckte. Nancy hatte bewiesen, dass sie sich von den anderen Reichen abhob. Allein wie sie sie ansah. Ganz anders als all die anderen. Ehrlich, freundlich und sogar höflich. Konnte es wirklich sein, dass Tomie in ihren Augen nichts anderes als ein einfaches Mädchen war? Das erste Mal in ihrem Leben war sie nicht die arme, traurige Waise, die alles verloren hatte, nein, die war eine ebenso wandernde Seele, die genau so wie alle anderen auf den Bus wartete. Kurz hob die Schwarzhaarige ihren Kopf, um mit flackerndem Blick das Waisenhaus finster anzustarren. Noch einmal wurde ihr Griff um die Stofftasche fester, sodass nun ihre Knöchel deutlich hervortraten. Wenn Nancy die Schlussfolgerung ziehen würde, dann wäre ihre schöne, neue, heile Welt sofort wieder zerstört. Und das musste sie verhindern. Warum hatte sie dann vorhin so dämlich geantwortet? Entmutigt ließ sie den Kopf hängen, behielt aber ihre anmutige Haltung. Noch immer war ihr Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet und ihre Stimme glich mehr einem Flüstern. “Mein Name ist übrigens Tomie.“ Langsam hob sie ihren Kopf und strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ein unsicheres Lächeln auf ihren Lippen. Wie kann es sein, dass es in der Stadt nichts mehr gab, was ein Mädchen wie sie halten konnte? Eine Stadt steckte immer voller Möglichkeiten, ganz anders als wenn man in einem Heim mitten im Land aufwächst. Das einzige, was Tomie je gelernt hatte, war die Pokémon anhand ihrer Rufe auseinanderzuhalten. Und dass Giftefeu giftig war. Sie konnte also niemals mit jemandem wie Nancy mithalten. Würde sie nicht auch von der Stadt verstoßen werden? Zumindest besaß sie ein schönes Erscheinungsbild, was ihr vielleicht den ein oder anderen Job bescheren könnte. Doch sie wollte nicht arbeiten, noch nicht. Zuerst wollte sie auf Reisen gehen, etwas was sie schon immer tun wollte, aber niemals konnte. Alles wegen ihren Eltern. Doch wenn nicht jetzt, wann dann?
“Woher hast du denn Karma, wenn ich fragen darf?“ Freundlich lächelte sie dem anderen Mädchen zu und nahm ihre Hand von ihrer Tasche, sich mit einer Hand leicht am Ellbogen berührend. Tomie besaß noch keine Vorstellung davon, wie es war, mit einem Pokémon zu reisen beziehungsweise dieses zu fangen oder zum Mitkommen zu überreden. Sie fühlte sich so unglaublich dumm neben Nancy. Sie wirkte um so viel erfahrener und erwachsener als die Schwarzhaarige selbst. Manchmal wirkt es auf sie so, als wäre sie in der Zeit stehen geblieben und hatte sich nicht weiterentwickelt. Ein weiterer Grund, weshalb sie reisen und Pokémon fangen möchte. Leise räusperte sie sich ehe sie höflich fragte: “Wohin soll denn eure Reise gehen? Ich persönlich habe noch kein bestimmtes Ziel, muss ich zugeben.“ Kurz lachte die Waise auf und verdeckte dabei mit einer Hand ihren Mund, eine Angewohnheit, die sie schon seit Jahren besaß. Sie besaß die Hoffnung, Nancy vielleicht unauffällig folgen zu können, damit sie wenigstens vorerst einen Anhaltspunkt besaß. Es war auch gut möglich, dass das Mädchen schon weiter gereist war und die verschiedenen Städte Einalls bereits besucht hatte. Die einzige Stadt, die Tomie jemals kennengelernt hatte, war Stratos City gewesen, der Ort wo sie aufgewachsen war. Weit war sie also nicht gekommen, doch wie sollte sie auch, wenn sie gar nicht erst das Geld dazu besaß. Die nächsten Tage und Wochen würde eine gewaltige Herausforderung für die darstellen, denn sie war weder reich, noch erfahren. Das Ganze war ein Sprung ins kalte Wasser. Manchmal redete sie sich ein, dass sie noch genau so später umkehren könnte, doch dies war eine glatte Lüge. Wo sollte sie schon hin? Zurück ins Waisenheim, wo sie bis zu ihrem Tod leben sollte? Zurück zu ihrer alten Wohnung, in der sie mit ihren Eltern gelebt hatte? Es gab keinen Weg zurück, nur noch vorwärts, auch wenn sie sich gerne etwas anderes einredete, um ihre Zweifel beiseite zu schieben. Die Schwarzhaarige besaß nur noch die Hoffnung, dass Nancy sie unter ihre Fittiche nehmen würde, auch wenn sie keinen Grund dafür sah, wieso sie das überhaupt tun sollte. Hatte sie die erste Hürde geschafft, dann käme der Stein bestimmt ins Rollen. Und dann wäre sie auch bereit für ihr erstes Pokemon.
post#5 - nancy:
Nancy hoffte, dass ihre Gegenüberin kein Junkie oder ähnliches war – wie sonst sollte sie sich deren sprunghaftes Verhalten erklären? Sollte die Schwarzhaarige tatsächlich zu jenen gehören, die weiß Gott welche Dienste anboten, um sich bestenfalls Badesalz reinzuziehen, so würde Nancy über jeglichen Nutzen, die diese ihr bot, hinwegsehen und Reißaus nehmen müssen. Die Straßen der Städte waren gefährlich, natürlich, doch wollte sie das Risiko einer bremsligen Situation nicht dadurch erhöhen, dass sie sich fortan mit einer Drogentussi abgab. Doch ermahnte sie sich, ihre Gedanken auf solch einen düsteren Punkt zu richten. Womöglich besaß die Schwarzhaarige einen vollkommen legitimen Grund für das Verhalten, das sie ihr vorhin noch entgegengebracht hatte. War es eine Art Schutz? Ja, ein Schutz mit dem Zweck, Fremde auf Abstand zu bringen, wenn ihre Absichten und ihre Gemütslage nicht auf den ersten Blick ersichtlich waren. Dieser Einfall hatte bereits einen deutlich angenehmeren Klang. Immerhin konnte Nancy in jenem Fall jegliche Vorteile ausschöpfen, die der Kontakt mit dem hübschen Mädchen barg. Sie wirkte wie jemand, der lernen musste, auf sich allein gestellt zu überleben. Sicherlich würde sie sich dann den ein oder anderen Tipp von ihr abschauen können. Das würde das Leben, das sich ihr nun eröffnet hatte, durchaus einfacher machen.
All jene Gedanken sprangen Nancy durch den Kopf, als sie ihr die Hand schüttelte. »Tomie – welch reizender Name.« Sie schenkte der Schwarzhaarigen ein sanftes Lächeln, ehe sie ihre zarten Hände in die Taschen ihrer Jacke schob und das hübsche Gesicht ihr gegenüber betrachtete. Wahrlich, sie war eine Schönheit. Doch entging Nancy nicht der nervöse Blick, den sie für eine Sekunde in den Wald hineinwarf. Der Pfad, den wir vorhin gesehen haben – kommt sie womöglich aus dem Haus, das an dessen Ende lag?, erklang die zarte Stimme ihres Psianas in ihren Gedanken. Sie ließ sich diese Vermutung durch den Kopf gehen und kam nicht umhin, als sich zu fragen, was es mit der Vergangenheit der Schwarzhaarigen auf sich hatte. Immerhin trug Nancy ihr eigenes Familiengeheimnis mit sich – wie sah es also mit Tomie aus? “Woher hast du denn Karma?“ Diese Frage war wie ein Messerstich in die Brust; sie hätte nicht erwartet, von einer Fremden so schnell an ihre Familie erinnert zu werden. Für einen Moment behielt sie das Lächeln auf ihren Lippen, das sie sich auch schon zuvor aufgesetzt hatte, doch besaß es nun einen deutlich leeren Anschein. Sie überlegte, was (und wieviel) sie preisgeben sollte, ehe sie lediglich mit den Schultern zuckte und sich eine Haarsträhne schmunzelnd hinter das Ohr strich. »Sie war ein Geburtstagsgeschenk; Daddy schenkte sie mir.« Und damit hoffte sie, dass die Schwarzhaarige nicht darauf bestand, näher auf das Thema einzugehen. Schließlich erkundigte sie sich auch danach, wohin ihre Reise denn nun gehen würde – Nancy blinzelte kurz, ehe jene Frage sie dazu brachte, den Kopf schiefzulegen und nachdenklich den Boden zu mustern. Ja, wohin würde ihre Reise denn gehen? Was war ihr nächstes Ziel? Ganz so genau hatte sie darüber tatsächlich noch nicht nachgedacht. Ihr einziges Vorhaben war – zumindest für jetzt – aus Stratos City zu verschwinden, weg von ihrem Vater. Weg von ihrem alten Leben. Natürlich verfolgte sie das Dasein einer Koordinatorin, weshalb es denkbar wäre, sie würde den nächsten Wettkampf bestreiten. Doch diese waren recht bekannt und wurden teilweise gar ausgestrahlt; die Gefahr, von ihrem Vater gefunden zu werden, war also noch zu hoch. Was war mit ihrer Schauspielkarriere? Sie könnte das ein oder andere Theater aufsuchen und dort erstmal ihr Geld verdienen (auch wenn der Vorrat, den sie sich aus dem Apartment ihres Vaters zusammengekratzt hatte, für eine ziemlich lange Zeit halten sollte. Der Schwerpunkt läge also nicht in finanzieller Hinsicht, sondern in dem Wunsch, sich von dem gesamten Geschehen der letzten Wochen abzulenken). Theater waren beliebt, ja, doch war ihr Vater kein Fan des Dramenspiels. Theoretisch wäre sie dort also für‘s Erste sicher aufgehoben. Oder sollte sie sich doch vollkommen der Pokémonwelt widmen? Einen oder zwei Spielkameraden für Psiana besorgen? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Ideen keimten im Hintergrund ihrer Gedankenwelt auf und sie war noch nicht in der Lage, sofort eine Entscheidung zu treffen. »Ich bin ehrlich, Tomie – ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie dann und lachte leise, als wäre sie über sich selbst amüsiert, »Ich möchte einfach weit weg von hier, Freundschaften schließen und das Leben genießen. Wieso also nur auf einen Ort festlegen?«
post#6 - tomie:
Erleichtert seufzte die Schwarzhaarige auf. Die anfängliche Angespanntheit war verflogen und wahre Freundlichkeit schien durchzublitzen. Zögerlich erwiderte das Mädchen das Lächeln und räusperte sich anschließend. Kurz senkte sie den Blick, um interessiert ihre Schuhspitzen zu betrachten. Noch hatte sie ihre Chancen auf eine potenzielle Freundschaft nicht vertan, noch hatte sie nicht Reißaus genommen. Eine Seltenheit. Auf ihre Gegenfrage hin schien Nancy förmlich einzufrieren. Eine vorhin noch nicht dagewesen Leere trat in ihre Augen auch wenn ihre Lippen ein Lächeln formte. Hatte Tomie etwa einen wunden Punkt getroffen? Eigentlich hatte sie das Thema nur angeschnitten, um eine leichte, oberflächliche Konversation führen zu können, doch das Mädchen schien viel mehr mit Karma zu verbinden als nur einen Begleiter. Die Schwarzhaarige beschloss erstmals nicht weiter nachzuhacken. Noch nicht.
Nancy rang sich ein Schmunzeln ab und strich sich mit einer Hand nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Offenbar war das Psiana ein Geschenk gewesen, ein Geschenk von ihrem Vater. Könnte also der Vater das Problem sein? Noch befand sich Tomie in keiner Position, um über sie urteilen zu können, ganz im Gegenteil, nach ihrer vorherigen Aktion musste sie froh sein, dass sie sich überhaupt noch mit ihr abgab. Kurz nickte sie und meinte mit fester Stimme: "Verstehe." Es wäre äußerst unangebracht sie jetzt darauf anzusprechen. Vielleicht würde sich ja auf der Busfahrt eine Gelegenheit ergeben, einander besser kennenzulernen auch wenn sie dieses Thema meiden würde. Vielleicht war Nancy ja doch kein glückliches, reiches Mädchen, wie Tomie zuerst angenommen hatte. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen.
Ihr Gegenüber schien im ersten Moment etwas irritiert zu sein. Fast so als wüsste sie nicht, was ihre Worte bedeuteten, doch eigentlich ließen sie gar nicht so viel Interpretationsspielraum zu. Still stellte sie sich die selbe Frage und musste feststellen, dass auch sie keine Antwort darauf zu finden schien. Wenige Sekunden später offenbarte Nancy ihr, dass sie ebenfalls kein richtiges Ziel verfolgte. Nunja, zumindest keine Destination. Sie wollte das Leben genießen und Freundschaften schließen. Beinahe hätte das Mädchen kalt aufgelacht. Eine typische Aussage für Mädchen von ihrem Stand. Sie selbst konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie ihr eigenes Leben das letzte Mal genossen hatte, doch dies stand auch nicht zur Debatte. Ohne Frage, die letzten Jahre waren hart, doch das würde sie nicht runterziehen. Sie würde dies nicht zulassen. Leicht kräuselten sich ihre Mundwinkel und sie nahm mit leuchtenden Augen den Blickkontakt wieder auf. "Ahh ein Weltenbummler also?" Kurz lachte Tomie. Wie gerne sie es ihr gleich tun würde. Immerhin musste sie ebenfalls Pokemontrainer werden und die Welt erkunden. Und sie musste endlich ihr erstes, eigenes Pokemon finden. Auch sie wollte einen Wegbegleiter so wie Nancy Psiana hatte.
In der Ferne konnte man schon die Lichter des sich nähernden Bus' erkennen. Nicht mehr lange und schon bald würde das Waisenhaus hinter ihr legen. Sie konnte nicht anders als tiefe Erleichterung zu empfinden. Endlich konnte sie die Hölle hinter sich lassen und anfangen zu vergessen. "Es gibt so viel zu entdecken und ich denke, dass dies erst der Anfang sein wird. Ich kann es kaum erwarten."
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Nachdenklich musterte Nancy das Mädchen ihr gegenüber. Für gewöhnlich machte sie sich nichts daraus, sich in ihren Gegenüber hineinzuversetzen – außer, sie konnte dadurch irgendeinen Vorteil erzielen. Doch jetzt, während sie die Schwarzhaarige sie so betrachtete, stellte sie fest, dass sie es tatsächlich aus reinem Interesse tat. In ihrem gesamten Leben war das Thema Armut ein großes Tabu gewesen. Waren ihr Vater und sie auf der Straße mal einem Obdachlosen begegnet, so hatte er stets getan, als wäre jener non-existent – und sie hatte es ihm gleichgetan. Allgemein, die Orte Stratos City‘s, die sie im Laufe ihrer Jugend aufgesucht hatte – Theater, Galas – waren nur zugänglich gewesen für Leute, die ihren Stand teilten. Gar ein Normalverdienender war für sie ein seltener Anblick gewesen, und die Vorstellung an die Menschen, die in Gassen wohnten und sich Spritzen teilten hatte sie stets auf eine unerklärliche Weise verstört. Immerhin waren das die Leute, die jemanden wie ihr Böses wollten, nicht wahr? Das hatte ihr Vater immerhin stets zu sagen gepflegt und sie somit daran gehindert, Orte ohne ihn aufzusuchen. Er war stets an ihrer Seite gewesen. Ein bitterer Geschmack färbte ihre Zunge und zog sich bis zu ihrem Rachen hinab.
Sie konnte sich also kaum vorstellen, wie Tomie ihr Leben bisher verbracht hatte. Ein Mysterium, wahrlich, doch war Nancy bereit, dieses zu erkunden. Ihr Weg, der sie zu dieser Bushaltestelle geführt hatte, war befleckt von Lügen – endlich konnte sie bestimmen, welcher dieser Geschichten sie Glauben schenken würde. Tomie jedenfalls schien nicht wie jemand zu wirken, der ihr bei nächster Gelegenheit ein Messer an die Kehle halten würde. Sie war erstaunlich hübsch; ein Fakt, den sie sich nun schon zum zweiten Mal eingestand. Naiv wie sie bisher gewesen war, hatte sie sich jene, die der unteren Schicht der Gesellschaft angehörten, nie als attraktive Gesellen vorgestellt. Sie legte den Kopf schief und musste belustigt feststellen, dass es aus ihren (ehemaligen) Bekanntenkreisen Frauen gab, die bereit waren, ein Vermögen auszugeben, nur, um jene natürliche Schönheit zu erlangen, die Tomie besaß. Welch Ironie.
Die Schwarzhaarige schien zu ahnen, dass irgendetwas an der Beziehung zwischen Nancy und ihrem Vater nicht stimmte, doch besaß sie die Höflichkeit, ihre Gedanken dazu nicht laut auszusprechen. »Verstehe«, erwiderte sie stattdessen und nahezu dankbar schenkte Nancy ihr als Antwort darauf ein sanftes Lächeln. Sie war nicht bereit, einer anderen Seele von den Dingen zu erzählen, die er ihr angetan hatte. Sie waren so schrecklich, so ekelerregend, dass sie es sich selber nicht einmal eingestehen wollte. Ihr Vater, oh, ihr lieber Vater. Noch nicht.
Als sie Tomie eine Antwort auf ihre zuvor gestellte Frage gab, veränderte sich der Ausdruck in ihren klaren Augen und für eine Sekunde fragte Nancy sich, ob sie etwas falsches gesagt hatte. Sie würde noch eine zeitlang mit dem Mädchen klarkommen müssen, zumindest einen Teil der Busfahrt über; da wollte sie es vermeiden, sie vorzeitig zu verstimmen. Doch verschwand eben jener Ausdruck im selben Herzschlag, in welchem er ihr aufgefallen war – stattdessen begegnete Tomie‘s Blick ihr mit einem Leuchten. »Ein Weltenbummler, also?« Erleichtert schmunzelte Nancy auf und strich sich eine weiße Strähne hinter das Ohr. Ein Weltenbummler? Oder jemand, der versuchte, ihrer Vergangenheit zu entkommen? »Kann man so sagen.« In Tomie‘s Augen erkannte sie einen unausgesprochenen Wunsch und erst da wurde ihr so wirklich bewusst, sie eingeschränkt sie im Vergleich zu Nancy doch war. Es stimmte, was die Leute sagten – Geld öffnete Türen und machte das Leben leichter. Sie erwartete, eine ähnliche Aussage aus dem Mund der Schwarzhaarigen kommen zu hören, doch stattdessen meinte sie lediglich: »Es gibt so viel zu entdecken und ich denke, dass dies erst der Anfang sein wird. Ich kann es kaum erwarten.« Oh, welch wahren Worte. Nancy nickte zustimmend, und auch das Psiana auf ihrer Schulter schien dem anderen Mädchen einen vielversprechenden Blick zu schenken. »Wie Recht du hast.«
Schließlich wurden die Drei in das gelbliche Licht des Busses gehüllt, quietschend kam er neben ihnen zum Stehen. Man sah dem Fahrzeug sein Alter an; hier und da zeigten die Felgen rostige Flecken, das Plakat, das einst wohl Werbung für den (damals) neu eröffneten Supermarkt in Stratos City machen sollte, war vergilbt und stellenweise abgerissen. Nancy hoffte, sich keine Krankheit einzufangen, sobald sie den Bus betreten würde. Die vordere Tür schwang schlagartig auf und gab dabei jenes unangenehm schrille Geräusch von sich, welches auch die Bremsen zuvor getan haben. Der Busfahrer schien erstaunlich nett, trotz seinem ungepflegten Erscheinungsbild. Nancy lächelte Tomie ein letztes Mal an, ehe sie den Bus betrat. »Wohin geht‘s, meine Damen?«, fragte der breit gebaute Herr, an seinem Mundwinkel hing eine sanft glühende Zigarette. Die Blonde blinzelte. Wie peinlich – welche Stadt wollte sie denn zuerst ansteuern? »Fahren Sie mich einfach zur Endstation«, erwiderte sie schließlich und kramte in ihrem Rucksack nach ihrem Portemonnaie, um die passenden Geldscheine rauszufummeln. Da fiepste ihr Psiana leise in ihr Ohr, und als würde sie genau verstehen, was es sagen wollte, wandte Nancy kurz den Kopf und sah zu Tomie, die noch draußen wartete. »...und das Mädchen hinter mir auch«, fügte sie schließlich an und legte ihm das Geld hin. Sicherlich trug Tomie nicht allzu viel Bares bei sich – sie würde es noch für andere Dinge brauchen. Und was sollte sie sagen? Vielleicht drang Nancy‘s Gutherzigkeit gerade wegen den herrschenden Umständen so stark durch, dass sie sich dazu entschloss, für das ärmere Mädchen mitzuzahlen. Sollte sie nicht bis zur Endstation durchfahren wollen, dann könnte sie einfach aussteigen – Nancy jedenfalls hätte ihr Gewissen mit dieser kleinen Geste der Nächstenliebe für die nächste Zeit bereinigt. Lächelnd nahm sie die Fahrkarte und das Wechselgeld an, ehe sie sich dem nächstbesten Sitzplatz näherte und sich dort niederließ.
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Tomie war immer gut darin gewesen, ihr Gegenüber einzuschätzen, doch manchmal täuschte sie sich auch. In diesem Falle hatte sie zum Glück richtig gehandelt. Sie wollte es sich nicht noch weiter mit ihr verscherzen, als sie es schon getan hatte. Ein vulgärer Ausbruch und von einer Fremden auf der Straße einfach angegangen zu werden standen bestimmt nicht auf Nancys Prioritätenliste. Wenn sie sich nicht zusammenriss, dann würde sie genau so zur Seite geworfen werden, wie Müll, welcher auf der Straße landete. Unbeachtet und dennoch etwas angeekelt. Zögerlich erwiderte die Schwarzhaarige das Lächeln und senkte ihren Blick anschließend wieder. Interessiert betrachtete sie ihre schlanken, langen Finger, alles um ihrem misstrauischen Blick zu entgehen. Zwar hatte sie nichts zu verbergen, doch sie schämte sich für ihren vorherigen Ausbruch. "Bitte sieh mich nicht auf die gleiche Weise an, wie es alle vor dir getan haben." Innerlich hegte sie diesen stillen Wunsch, doch sie wusste genau, dass das Schicksal nicht in ihrer Hand lag, denn diese "Ticks" konnte sie nicht kontrollieren, egal wie sehr sie dies wollte. Es war, als würde sie eine unsichtbare Macht überkommen, die sie nur unter großer Anstrengung bekämpfen konnte. Niemand wusste, was sich hinter ihrer schönen Fassade eigentlich abspielte.
Lachend strich sich das reiche Mädchen eine Strähne aus dem Gesicht und bestätigte ihre Vermutung mehr oder minder. In gewisser Art und Weise war Tomie ebenfalls eine Weltenbummlerin, auch wenn sie gerade erst am Anfang ihrer Reise stand. Insgeheim war das Mädchen jedoch noch nicht viel herum gekommen. Man könnte sie sogar als weltfremd bezeichnen. Zum Glück würde sich dieser Aspekt in ihrem Leben endlich ändern. Die eisernen Ketten um ihre Hände wurden aufgebrochen und sie war endlich frei wie ein Vogel, wenn man die permanente Geißelung ihres eigenen Verstandes außen vor ließ. Zuvor hatte sie nicht die Möglichkeit gehabt, zu reisen, so wie es ihr beliebte. Ein Leben lange musste sie kämpfen und sich mit Abschaum herumschlagen, der mehr einer Kloake als einem menschlichen Wesen glich. Sie war nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren worden. Doch anstatt in Selbstmitleid zu versinken, richtete sie lieber ihren Blick nach vorne und begann zu kämpfen. Irgendwie würde sie schon an Geld kommen und bis dahin, so sehr es ihr missfiel, musste sie auf die Gütigkeit ihrer Mitmenschen hoffen. Wenn sie es konnte, wird sie sie zurückzahlen. Das doppelte sogar. Für ihren noblen Dienst.
Quietschend kam die blecherne Büchse auf vier Rädern neben ihnen zum Stehen und auch die letzte Aufregung wich in ihr. "Endlich." Nancy machte den Anfang. Mit einer Hand hielt sie sich an einer Stange fest und setzte anschließend Fuß. Der Bus gab ein unangenehmes Geräusch von sich. Das Metall war erschöpft, aufgefressen vom Rost und auch das Fahrzeug würde sich bald zur Ruhe setzen müssen. Ebenso wie der Busfahrer. Tomie sah, wie die Blonde ihre Geldbörse hervorfummelte und einige Scheine auf das kleine Podest legte. "Und das Mädchen hinter mir auch." Beinahe im selben Moment schoss ihr die Röte ins Gesicht und instinktiv bedeckte sie ihren Mund mit einer Hand. Wie unangenehm! Wirkte sie wirklich so arm, dass eine Wildfremde für sie blechen musste? Beschämt senkte sie den Blick und betrat nach Nancy den alten Bus. Der Boden war fleckig, richtig abgeranzt und trug Narben der Zeit. Im Grunde repräsentierte er genau das, was das Mädchen gerade in diesem Moment empfand. Schmutz. Natürlich war sie ihr dankbar für ihre Aufopferung, doch gleichzeitig kannten sich die beiden gar nicht. Tomie schämte sich jede Sekunde etwas mehr. Wieso konnte sie sich in diesem Moment nicht einfach kontrollieren, denn jetzt stand sie noch tiefer in ihrer Schuld. Wie in Trance trottete sie auf die Reiche zu und ließ sich förmlich auf den Sitz neben ihr fallen. Der Sitz stand vor Dreck und die blaue Farbe war vergilbt, ja, an der Sitzfläche schon beinahe in einen Braunton getaucht worden. Die Fenster waren verschmiert und der kleine Tisch vor ihr abgerissen. Definitiv kein Gefährt für reiche Mädchen, wie Nancy eines war und dennoch verzog diese keine Miene. "Danke." Das Wort verließ erst zögerlich ihren Mund und war so leise, dass es kaum wahrnehmbar war. Schnell räusperte sich die Waise, ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen an ihre Sitznachbarin. "Doch ich werde das zurückzahlen, hörst du? Ich werde keine Schulden bei dir haben! Das doppelte sollst du bekommen! Irgendwann zumindest..." Mutlos ließ sie die Schultern sinken. Was war nun genau ihr Plan und wie sollte sie an Geld kommen? Sie konnte sich nicht ewig durchschnorren, auch wenn das vorerst ihr Notfallplan war.
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Tomie stellte für das blonde Mädchen ein Mysterium dar – ein angerissener Einblick in eine Welt, die ihr fremd war; eine neue Form von Ehrlichkeit. In ihrem Leben, das getragen wurde von dem Geld ihres Vaters, hatte sie bereits viele Menschen, viele unterschiedliche Persönlichkeiten kennengelernt, doch hatten sie alle eines gemeinsam gehabt: Fäulnis; Jämmerlichkeit. Dazu angespornt, anderen zu gefallen, haben sie stets eine Maske aufgesetzt, die der ihres Gegenübers im Grunde ähnelte. Sie sprachen, darauf bedacht, ihren Gesprächspartner nicht zu verärgern, ja, sie lechzten nach Anerkennung, taten alles, nur um von Anderen angepriesen zu werden – und dafür gaben sie ihre Menschlichkeit auf. Auch Nancy war bereits an jener Grenze gestanden, hatte gewankt, denn etwas in ihr wollte diese Maske nicht, sie wollte nicht untergehen in einer grauen Masse, die geprägt war von angeblicher Perfektion. Sie wollte Mensch sein und nicht sofort den Stempel einer reichen Tussi auferlegt bekommen. Auch in Tomie‘s Blick hatte sich zunächst dieser Ausdruck verirrt, vor welchem sie selbst so viel Abstand halten wollte. Das perfekte Stadtmädchen. Doch umso mehr Worte zwischen ihnen fielen, desto kleiner wurde dieser Ausdruck, ehe er einer völlig neuen Form von Akzeptanz Platz machte. Tomie hörte ihr zu, wahrlich zu; die Worte verließen ihren Mund und sie konnte in den klaren Augen ihrer Gesprächspartnerin erkennen, dass jene ihr Gesprochenes verarbeitete. Nancy fühlte sich zum ersten Mal anerhört, der aufmerksame Blick der Schwarzhaarigen galt ihr und nicht der Figur, welche sie all die Jahre vorgab zu sein. Und jene Tatsache schien das Mädchen zu beflügeln.
Sie gaben sich beide eine Chance. Konnte es wirklich sein? Handelte Nancy offenherzig? Nein, nicht vollkommen, jedenfalls. Etwas in ihr wühlte nach einem Vorteil, den Tomie ihr bieten konnte – den gewissen Sinn, um sie tatsächlich in ihr Leben zu lassen. Reichte es denn nicht, eine angenehme Gesellschaft zu haben, die ihr die Busfahrt weniger langweilig gestalten würde? Während sie Tomie betrachtete legte sie den Kopf schief und dachte nach.
Nancy versuchte, nicht jedes unhygienische Detail zu analysieren, welches der Bus zu bieten hatte. Das war ihr neues Leben; sie müsste sich daran gewöhnen, wenig Luxus zu genießen. Lebte so das einfache Volk? Während sie sich auf den Sitz am Fenster niederließ und den Blick hob, um Tomie dabei zu beobachten, wie sie selbst die Flecken hier und da beobachtete, stellte sie fest, dass die schmutzigen Verhältnisse wohl auch für sie unangenehm waren. Ein kleiner Trost, womöglich – wenn ein Mädchen aus der Armut sich vor diesem Bus ekelte, dann durfte sie das wohl auch. Aber war da noch ein gewisser anderer Ausdruck in ihren Augen, den Nancy nicht so recht zu deuten wusste. War es Scham? Ihr Psiana, welches bisher seelenruhig auf ihrer Schulter verweilt hatte, kletterte sanft ihren Arm hinab und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen; seine katzenähnlichen Knopfaugen dabei weiterhin auf Tomie ruhend. Lächelnd kramte Nancy einen halben PokéRiegel aus ihrem Rucksack und hielt ihn Karma hin, welche ihre kleinen Pfoten augenblicklich an den Snack klammerte und begann, diesen in kleinen Bissen zu verdrücken. Sie tat, als hätte sie gar nicht erwartet, Tomie würde sich tatsächlich neben sie setzen. Schweigend setzte sie sich auf den freien Platz an ihrer Seite; ruckelnd fuhr der Bus auch schon an. Als jene sich schließlich bedankte, begegnete ihr Nancy mit einem warmen Lächeln. »Keine Ursache; wir Weltenbummler müssen einander schließlich aushelfen.« Woraufhin ein leises Lachen ihre Lippen verließ. Doch da wandte sich die Schwarzhaarige mit einer solchen Überzeugungskraft an sie, dass sie für einen Herzschlag überrascht die Augen aufriss. „Doch ich werde das zurückzahlen, hörst du? Ich werde keine Schulden bei dir haben! Das doppelte sollst du bekommen! Irgendwann zumindest...“ Bei ihren Worten kehrte das sachte Schmunzeln auf Nancy‘s Lippen zurück; sanft legte sie ihr eine Hand beruhigend auf die Schulter. »Hey – mach dir keinen Stress, okay? Sieh es einfach als kleines Geschenk an; anlässlich einer neu geknüpften Freundschaft.« Ihre goldenen Iriden strahlten vor Freundlichkeit und Wärme, doch wusste sie insgeheim, dass Tomie ein solches Geschenk nicht einfach so annehmen würde. Sie stand, für den Moment zumindest, also in ihrer Schuld – und vielleicht war das der erste Vorteil, nach dem sie vorhin so verbissen gesucht hatte.
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Ob die Busse in anderen Stadtteilen besserer Verfassung waren? Oder repräsentierte dieser hier nur Tomies vorheriges Leben, um es ihr nochmal unter die Nase zu reiben? Das Mädchen glaubte an Schicksal, genau so wie es Schicksal war, dass Arm und Reich auf dieser abgelegenen Bushaltestelle aufeinandertrafen und sich die hübsche Blonde tatsächlich um ein Waisenkind wie sie annahm. Stumm betrachtete sie die Schmutzflecken, die die abgesessenen Sitze zierten, die vereinzelten Kaugummis, welche wohl schon seit Jahrzehnten in deren Ritzen klebten. Irgendwie lag Schönheit in diesem Schmutz, auch wenn es für viele erst gar nicht ersichtlich war. Die Sonnenstrahlen beleuchteten die Staubpartikeln, welche in der Luft flogen und ließen den Bus in neuem Licht erstrahlen. Tomie kniff die Augen zusammen.
Beinahe empfand sie so etwas wie Neid. Zu gerne hätte sie auch einen Begleiter gehabt, doch sie durfte nie. Konnte nicht. Die Kinder hätten ihn vielleicht getötet, denn sie alle wollten jedes Fünkchen an Hoffnung im Keim ersticken und Tomie so wieder zu Boden werfen. Endlich konnte sie sich von den Fesseln befreien und ein neues Leben beginnen. Und auch ein Pokemon besitzen. Großzügig winkte Nancy ab, denn nach ihr müssten alle Weltebummler zusammenhalten. Doch dabei sah sie nicht, dass die Schwarzhaarige bereits mit dem Rücken zur Wand stand, die Zehenspitzen über den finsteren Abgrund hängen lassend. Sie war nicht dumm. In ihrer Position gab es nur zwei Möglichkeiten: Zum Dieb werden oder sich selbst an den Haaren aus der Scheiße ziehen. Es würde nicht einfach werden, doch sie war bereit zu kämpfen. Das Mädchen war scheinbar keinen groben Umgang gewöhnt, denn als Tomie ihre Stimme erhob, riss sie erschrocken die Augen auf. War sie doch zu laut gewesen? Instinktiv wollte sie zu einer Entschuldigung ansetzen, dich da legte ihr Nancy auch schon beruhigend die Hand auf die Schulter und meinte, sie sollte es als Geschenk ansehen. "Anlässlich einer neu geknüpften Freundschaft." Diese Worte trafen sie unerwartet. Freundschaft? Nach all den Jahren im Waisenhaus wusste sie nicht mehr, wie sich so etwas anfühlte, geschweige denn wie sie sich richtig verhalten sollte. Alles was sie kannte, waren Hass, Gewalt und Kälte. Die Schwarzhaarige schwieg. Würde sie wieder alles ruinieren? Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihr ihre dunkle Seite gezeigt, doch das Mädchen war nicht geflüchtet. Noch nicht zumindest.
"Danke." Und mit diesen Worten beschloss sie, dies nicht einfach so auf sich sitzen zu lassen. Irgendwann... "Sag mir, wie ist es mit einem Pokemon zu reisen?" Tomie konnte es sich nicht vorstellen, wie es war, jemanden bei sich zu haben. Aus diesem Grunde nützte sie die erste Gelegenheit, welche sich ihr bot, um diese Frage zu stellen, welche schon seit Ewigkeiten in ihrem Gehirn herumspukte.
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Tomie umgab eine seltsam traurige Aura. Es lag nichts bemitleidenswertes darin; etwas, das Nancy dazu gebracht hätte, angewidert die Augen zu verdrehen, so wie sie es bei den ganzen Tragödien im Theater oft getan hatte – oder wenn sie in ihrer Rolle als Schauspielerin selbst dazu gezwungen wurde, vor Publikum über ihr fiktives, armseliges Leben rumzuheulen. Nein, von der Schwarzhaarigen ging eine Trauer in reiner Form aus; unschuldig, klar. Gefesselt an diesen düsteren Ort, der im Außenbereich Stratos City‘s lag. Schweigend musterte Nancy sie aus dem Augenwinkel. Sie befand sich nicht in der Position, mit ihr zu fühlen; immerhin war ihre Jugend stets von Reichtum und Luxus geprägt gewesen. Weshalb also schrie ihr Herz danach, sich jener Trauer anzuschließen?
Sie dachte an die Nächte zurück, in denen ihr Vater fluchend über sie hergefallen war; in welchen sie schließlich allein in ihrem Zimmer lag, gekrümmt vor Schmerzen, und dem Himmel aus dem Fenster aus zusah, wie er die Finsternis verdrängte und Sonnenstrahlen über Stratos City fallen ließ.
Sie dachte an jene Zeit zurück und glaubte, eine ähnliche Form der Trauer ebenso schon mal gespürt zu haben. Nachdenklich wandte das Mädchen den Blick ab und betrachtete die rostigen Halterungen der Sitze; die Flecken, die sich über ihrem Kopf an der Decke abzeichneten. Das Psiana schmiegte sich an ihre Brust und stützte den Kopf auf ihrem Arm, um Tomie mit den schwarzen Knopfaugen mustern zu können. Es spürte die Verbindung zwischen den Beiden; ebenso wie Nancy glaubte, es spüren zu können. Zwei Mädchen aus zwei vollkommen verschiedenen Welten. Und doch fühlte sie sich in ihrer Gegenwart wohler als bei all den Mädchen, denen sie in ihrem bisherigen Leben begegnet war. Konnte es sein – war sie wirklich dabei, eine wahre Freundschaft zu schließen?
Tomie bedankte sich und lenkte das Gesprächsthema schließlich auf etwas, das ihr Herz leichter werden ließ. Ihr Pokémon. »Es ist das Schönste, das mir im Leben passieren konnte«, erklärte sie mit einem aufrichtigen Lächeln auf ihren weichen Lippen. Ihre goldenen Iriden spiegelten die Wärme wider, die sie in ihrer Brust empfand. Sie liebte ihr Psiana – nach allem, was geschehen war, konnte sie das mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten. »Ich muss allerdings gestehen, dass wir Zwei noch nicht viel gereist sind. Wir haben an ein paar kleineren Wettbewerben teilgenommen und sie hat mich auch auf das eine oder andere Theaterstück begleitet, aber wirklich rumgekommen sind wir bisher nicht.« ‘Weil mein Vater mich nicht gehen ließ‘, wollte sie anfügen, verzichtete aber schließlich doch darauf. »Um ehrlich zu sein spiele ich mit dem Gedanken, womöglich doch eine richtige Trainerin zu werden. Du weißt schon – mit einem richtigen Team. Ein paar Kameraden würden ihr sicherlich nicht schaden.« Schmunzelnd kraulte sie dem Psiana den kleinen Schädel, woraufhin es seine Schnauze liebkosend gegen ihre Handfläche drückte. »Sie kann mit mir sprechen«, vertraute sie Tomie nach einer kurzen Pause an, »Sie beherrscht die Fähigkeit der Telepathie.« Sicherlich wäre es auch in der Lage, sich mit der Gedankenwelt Anderer zu verknüpfen – bisher hatte es außer Nancy allerdings niemanden gegeben, bei dem es sich tatsächlich getraut hätte. »Weißt du was?« Plötzlich hob sie das violette, katzenähnliche Wesen an, sodass der Körper lang wurde und die Hinterpfoten knapp über ihrem Schoß hinunterbaumelten. Überrascht fiepte es auf. »Du darfst sie mal halten – hier.« Und mit diesen Worten reichte sie ihr Pokémon an das schwarzhaarige Mädchen neben ihr; lächelte sie auffordernd an.
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Re: » in time, i will leave the city. «
[ 40289 ] Fr Feb 28, 2020 5:39 pm
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- NRPG wird mangels Interesse frühzeitig beendet -
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