Ort des Geschehens: Zellenräume, etwas versteckt vor neugierigen Augen und Ohren Tageszeit: Abends, in der Dämmerung nach Sonnenuntergang Wetter: Das Wetter ist zwar angesichts des Schneesturms so eisig, dass einen die Kälte bis in die Knochen kriecht, dennoch ist die Hitze, die die Ereignisse des Tages mit sich gebracht haben, zu spüren. Obwohl das Wetter die Katzen ermutigt, sich über Nacht eine Zelle zu teilen, wurde heute wieder einmal öffentlich zur Schau gestellt, dass man sich sehr gut überlegen muss, wem man ein solches Vertrauen zukommen lässt.
Der kalte Wind sauste durch den Ausgang zum Außenbereich und hatte dafür gesorgt, dass das ganze Labor zu einer eisig kalten Betonhöhle geworden war. Die Temperaturen waren schon Mittags kaum erträglich gewesen, doch da war die Stimmung noch aufgeheizt; es gab wichtigeres als sich über die Kälte und das Wetter zu beschweren. Doch jetzt war nicht nur die Sonne bereits untergegangen und der Schneesturm draußen immer schlimmer geworden, sondern langsam war auch die emotionale Hitze, die der Tag mit sich gebracht hatte, abgekühlt. Lotus streifte unruhig durch die kalten Gänge des Labors. Einige Katzen hatten sich bereits zurückgezogen und nach und nach wurde das Labor leerer. Friedlicher. Lotus leckte sich seine Schulter, wo ein nervig juckender Kratzer prangte, der aus dem Kampf heute Mittag stammte. Frieden war etwas, das Lotus aktuell nicht finden konnte - weder in Hinsicht auf das Labor noch mit sich selbst. Das Leben hatte sich über den Tag hinweg verändert wie das Wetter: Zu Beginn war es kalt, beinahe unerträglich gewesen, doch mit dem Tod von 001 war der Tag immer chaotischer geworden, unberechenbar. Ob sich der Tag als erfolgreich betrachten ließ - Lotus wusste es nicht. In mancher Hinsicht wohl schon, aber in anderer wohl auch nicht. Etwas ziellos bewegte sich Lotus in den Gängen hin und her. Irgendwie war er noch nicht bereit, den heutigen Tag abzuschließen - der Nachmittag hatte ihm ohnehin so viel zum Nachdenken geliefert, dass er jetzt noch nicht schlafen könnte. Am Ende des Ganges entdeckte Lotus 613, die ebenfalls noch wach war. Ob sie genauso wie er angesichts der Ereignisse des Tages noch nicht schlafen wollte? Lotus war sich nicht sicher. Wie konnte er auch? Schon heute Mittag war es ihm schwer gefallen, ihre wahren Intentionen zu erkennen. 278 war da wesentlich leicher zu lesen - genauso wie Lotus machte sie sich keinen Hehl daraus, die Wahrheit auf den Tisch zu legen - nur dass ihre Wahrnehmung für die Wahrheit stark beeinflusst wurde durch ihren Stolz und ihr Bild von der Welt. Aber 613's Aussagen zu interpretieren war schwer. Lotus kannte sie nicht gut genug dafür. Ehe Lotus sich versah, hatten seine Beine ihn zu der weißen Kätzin getragen: "Hey", begann er mit rauer Stimme und räusperte sich. "Auch noch wach?" Eine billige Floskel, doch Lotus hatte nicht vor, mit der Tür ins Haus zu fallen, und für den Moment war sie ausreichend. "Ist ja ein stürmischer Tag gewesen heute, nicht?"
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Müde saß Schnee in einem der Gänge des eiskalten Labors. Ihr Pelz schützte sie zwar ein wenig, doch trotzdem fror sie mit aufgeplustertem Fell. Früher hätte Chayton einfach einen Flügel über sie gelegt, sie mit seiner Körperwärme vom Zittern abgehalten, hätte sie von innen gewärmt. Früher hatte sie so oft diese Wärme gespürt, die sie durchflutete, immer wenn sie ihn gesehen hatte. Die aufgeregten Schmetterlinge in ihrem Bauch, die sie sofort glücklich gestimmt hatten. Jetzt war alles, was sie spürte, wenn sie an ihren Ziehbruder dachte, Schmerz. Ein eiskalter Schmerz, der sie auffraß. Warum war er weggerannt? Hatte er gewusst, was er ihr damit antun würde? Hatte er gewusst, welche Liebe sie für ihn verspürt hatte? War sie ihm gar nicht wichtig genug gewesen? Sie hatten alles miteinander gemacht, seit sie mit drei Monden in den Clan gekommen war. Alles. Wirklich alles. Und dann, dann war er einfach weg gerannt. Hatte sie zurück gelassen. Verletzt. In dem kalten Ort, in den sie ihm nur gefolgt war, weil er Blüte finden wollte. Sie liebte ihre Ziehmutter auch über alles. Doch wenn Chay nicht ins Labor gegangen wäre, wäre sie niemals hierher gekommen. Die Kälte, die ekligen Gerüche, die Gewalt... Das alles hatte sie nur durchgestanden, weil sie ihren Bruder an ihrer Seite gehabt hatte. Keiner wollte sie... Ihr Vater hatte sie einfach in den Clan gebracht und war dann abgehauen. Ohne jemals wieder nach ihr zu sehen. Warum war er nicht da geblieben? Und was war mit ihrer Mutter passiert? Blüte war eine wundervolle Mutter gewesen, doch wieso hatte sie niemals ihre echte kennengelernt? Und all die Liebe, die Blüte ihr entgegen gebracht hatte, war nun auch egal. Sie war weg. Und sie würde sie bestimmt nie wieder finden. Chay hatte sie auch verlassen. Er war verdammt nochmal einfach weggerannt! Ohne ein Wort der Erklärung! Ohne auf ihr Rufen zu reagieren! Warum existierte sie überhaupt noch? Vielleicht sollte sie einfach wieder zu 278 gehen und ihr ihre wahren Meinungen erzählen. Dann wäre sie sicherlich innerhalb von Sekunden Katzenfutter.
Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Wasser füllten, gerade als sie ein raues "Hey" vernahm. Schnell blinzelte sie und strich sich mit dem Schwanz einmal über das Gesicht, ehe sie den Kopf in die Richtung der Stimmte wandte. Es war 705 und sofort nahm ihr Gesicht einen skeptischen, ein wenig misstrauischen Ausdruck an. Was wollte der Kater? Er sprach, als wolle er Smalltalk führen, doch das wollte er ganz sicher nicht. Wieso war er also hier? Falls er gekommen war, um ihr die Kehle aufzuschlitzen, hatte er sich einen perfekten Zeitpunkt ausgesucht. Sie hatte sich nie schwächer gefühlt, als sie es gerade tat. Sowohl physisch, als auch psychisch. Weder auf das "Hey", noch auf das "Auch noch wach" gab sie eine Antwort. Schweigend musterte Schnee kritisch ihren Gegenüber. Wenn 705 kein gekonnter Schauspieler war, würde seine Körpersprache hoffentlich Aufschluss über seine Intention geben. Sie konnte wirklich nicht einschätzen, ob er intelligent oder impulsiv und dumm war. Denn einiges, was er heute Mittag zu 278 gesagt hatte, war sehr gut formuliert gewesen. Auch die Aussagen dahinter waren richtig gewesen und ließen darauf schließen, dass er nachdachte und hinterfragte. Dass er es so weit ausgereizt hatte, dass es bis zu einem Kampf gekommen war, war hingegen unglaublich dumm gewesen. 705 war wirklich nicht so einfach einzuschätzen. Um nicht komplett abweisend - was einfach nicht ihrem Wesen entsprach - zu wirken, reagierte sie auf die letzte Aussage des Katers mit einem kurzen Nicken. Stürmisch war der Tag definitiv gewesen, keine Frage.
613 schien ein wenig abwesend oder nachdenklich als Lotus sie ansprach. Obwohl er sich nicht bemüht hatte, unentdeckt zu bleiben, hatte die Kätzin ihn nicht bemerkt, bevor er sich kenntlich gemacht hatte. Es verwunderte ihn nicht - immerhin war heute genug geschehen, dass der Stoff zum Nachdenken wohl nicht so schnell ausgehen würde. Lotus selbst war schon immer wieder in solche Phasen abgedriftet, wo er sich selbst erst nach Minuten dabei ertappte, völlig unaufmerksam in die Luft zu starren. Konzentrieren, zumindest über einen längeren Zeitraum, war heute einfach nicht mehr möglich gewesen. 613's Reaktion auf Lotus eintreffen fiel dennoch eher vage aus. Zunächst wurde Lotus intensiv mit skeptischen Blick gemustert, unfassbar willkommen schien er in jedem Fall nicht zu sein. Ehrlich gesagt konnte es Lotus ihr kaum verübeln, dass sie ihm mit einer gewissen Distanz entgegentrat. Nicht zuletzt hatte er in ihrer Anwesenheit einen Streit mit einer Wächterin begonnen, ausgehend von einer politischen Meinungsverschiedenheit - etwas, das bei den Laborkatzen oder zumindest den "wichtigen" Laborkatzen nicht wirklich auf viel Toleranz stieß. Trotz allem war die Politik nur ein vorgeschobener Grund gewesen. In Wahrheit hatte 278 sich verbal in die Ecke drängen lassen, bis sie es wohl für nötig gehalten hatte, körperlich zu werden, um ihr Gesicht zu wahren. Ob das 613 erkannt hatte? Auf der anderen Seite war sie ebenfalls mies abserviert worden von 278 arrogantem Auftritt. Lotus war generell unsicher, wie die Grundeinstellung der weißen Katzen überhaupt war. Ihm erschien es zwar eher so, als wäre sie nicht unfassbar begeistert von der Grausamkeit der 001-Anhänger, aber auf der anderen Seite brachte sie auch Lotus' Vision wenig Enthusiasmus entgegen. Vielleicht lag das aber auch an der Situation? "Du siehst ein wenig betrübt aus." begann Lotus zögernd. "Willst du darüber reden? Wenn ich traurig war oder deprimiert oder unglücklich, wünschte ich mir immer, ich hätte jemanden, dem ich davon erzählen kann, jemanden, der mir zuhört..." Nach einer kurzen Stille fügte er noch hinzu: "Du musst aber nicht, wenn du nicht willst."
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TRIGGER WARNING - a very exhausted Schnee with some suicidal thoughts -
Der Kater hatte schnell erkannt, dass sich die Kätzin unglaublich schlecht fühlte. Aber das war kein Wunder. Schnee hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Maske der Fröhlichkeit aufzusetzen. Wofür auch. Doch dass 705 nun Therapeut spielte, gefiel ihr kein bisschen. Er konnte nicht einfach so handeln, als wäre das heute Mittag nicht passiert. Er konnte nicht immer erwarten, dass seine Vergangenheit keine Auswirkungen auf die Gegenwart hatte. "Glaubst du wirklich, dass ich mit dir darüber reden würde?", fauchte sie mit einem leichten Unterton, der einer Mischung aus Spott, Verachtung und Frust entsprach. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, war völlig fertig. Und dann kam dieser Vollpfosten daher und wollte mit ihr über ihre Gefühle reden. Im Labor. IM VERDAMMTEN LABOR! Wo Vertrauen ein Fremdwort war und die Wände Ohren hatten. Sie fuhr ihre Krallen ruhelos raus und rein. Aber 705 hatte Recht. Sie musste so unbedingt mit jemandem reden. Nichts wünschte sie sich mehr, als jemanden, dem sie vertrauen konnte. Bei dem sie sich fallen lassen konnte. Bei dem sie einfach über alles reden konnte, sie selbst sein konnte und ein bisschen Liebe erfuhr. Nur ein winziges bisschen. Ein Funken Wärme. Mehr wollte sie ja gar nicht. Aber das gab es hier nicht. please read this hidden part only if it does not triggerSo gerne wollte sie einfach los reden. Darüber, wie schief alles im Labor lief. Wie sehr sie diese alltägliche Grausamkeit zerstörte. Über Chayton, über Blüte und den Clan. Wie sehr sie all das vermisste und wie sehr sie dieses bisschen Wärme brauchte, um zu überleben. Lange würde sie es nicht mehr aushalten, wie diese Dunkelheit, dieser Stress sie von innen auffraß. Aber das konnte sie 705 nicht erzählen. Das würde ihr Ende bedeuten. Wobei ihr Ende eventuell gar nicht mal so schlimm wäre. Schließlich gab es niemanden der sie vermissen würde. Nichts, was ihr Grund gab, noch länger zu existieren. Es machte keinen Unterschied mehr, was sie tat. Sie könnte sich der Dunkelheit einfach hingeben. Wieso kämpfen, wenn sie sowieso früher oder später verlieren würde. Ohne es kontrollieren zu können kauerte sie sich auf den Boden und schloss ihre Augen, ihren Schwanz um sich gewickelt. "Ich will weg.", flüsterte sie.
"Hey, ich meine es ernst. Ich kann gehen, wenn du es wünschst." Lotus konnte ihre Abweisung verstehen. Es war generell schon ein sensibles Thema, wenn man sich selbst in einem verwundbaren Zustand zeigte, doch hier im Labor waren die Risiken noch höher. Es war wieder genau dieses Problem, das Lotus auch schon vor 711 erwähnt hatte, was auch 278 in ihrer kontrovers verdrehten Form angesprochen hatte: Keiner vertraute irgendjemandem. Und das Problem war: Lotus ging es ähnlich: Sein Gespräch mit Ray war im großen und Ganzen enttäuschend gewesen. Ja, auf dem Papier waren sie wieder vereinte und versöhnte Brüder - doch die nächste Meinungsverschiedenheit war schon zu riechen. Ray hatte einfach nicht die gleiche Einstellung dem Labor gegenüber wie Lotus. Die unkontrollierten Bewegungen der weißen Katze vor ihm schockierten Lotus. Er kannte 613 nur oberflächlich, doch er hatte sie immer als eine fröhliche, herzliche Kätzin angesehen. Jetzt wirkte sie eher wie ein verschrecktes Junges auf der Suche nach Frieden und Geborgenheit. "Ich will weg", flüsterte die Kätzin. Hastig war Lotus einen Blick hinter sich. Nicht hier. Sie standen viel zu offen, als dass sie leichtfertig über dieses Thema reden konnten. "Lass uns eine etwas ruhigere Ecke suchen, und dann kannst du mir erzählen, was du meinst" wisperte Lotus mit einem freundlichen Lächeln zurück und wartete darauf, dass 613 den Weg wies.
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705's Worte vernahm sie nur gedämpft, alles um sie herum rauschte und dröhnte. Ihr Kopf schmerzte und ihr gesamter Körper war kraftlos, fühlte sich an wie Pudding. Als hätte ein riesiger Hammer sie zerschmettert. Aber das Wort "ruhigere Ecke" gefiel ihr und gab ihr einen winzigen Funken Energie. Gerade genug, um sich aufrappeln zu können. Es kostete sie unglaublich viel Kraft, es war schlimmer als jede Müdigkeit die sie jemals gefühlt hatte, nachdem sie zu lange in ihrer zweiten Gestalt gewesen war. Aber als sie endlich stand, schüttelte sie sich kurz, bevor sie 705 aus dem Augenwinkel betrachtete. Konnte sie ihm vertrauen? Es war schwer ihn einzuschätzen. Viel zu schwer, um es in dem jetzigen Zustand zu tun. Und was gab es zu verlieren? Richtig, nichts. Also machte sie einen schwachen Schritt nach vorne, um sich dann ein wenig umzudrehen. 705 sollte vorgehen. Sie war gerade nicht in der Lage, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Alles war egal. Sie wollte einfach nur folgen. Und einschlafen. In irgendwelche Traumwelten versinken und nie wieder aufwachen.
613 sah wirklich überhaupt nicht gut aus. In diesem Zustand kam sie schon fast an Lotus heran, nachdem er seine Mutter tot aufgefunden hatte. Ein Zustand, in dem der eigene Wille so schwach war wie ein kleiner, dürrer Zweig, der vom Baum abgebrochen war und beim kleinsten Druck zerbrach, der vom Wind durch die Gegend geschleudert wurde, der keine Bedeutung mehr hatte. Wen hatte sie verloren? Zum Glück kannte Lotus die Stellen gut. Die Orte, von denen aus man unbemerkt die Gespräche der anderen mithören konnte, waren die eine Sache. Die Orte, an denen man seine Ruhe hatte und keiner einen unbemerkt beobachten konnte, eine andere. Lotus kannte sie beide. Oder zumindest einen großen Teil. Was man eben so alles lernt, wenn man monatelang unauffällig bleiben will. 613's Gestik suggerierten, dass Lotus den Weg weisen sollte, wohl aus beiden Gründen. Es gab da ganz in der Nähe des Außenbereichs zum Beispiel eine recht ruhige Ecke - geschützt von der Tür, doch üblicherweise gab es keinen Grund dorthin zu gehen. Zumindest im Winter, da waren die Zellen alle leer, denn wer schlief schon gern im kalten Wind. Und zu sehen gab es da auch nichts, daher war der Ort auch grundsätzlich uninteressant. Sogar im Sommer hatte Lotus kaum jemand in diesem Bereich des Labors gesehen, selbst unter der Tatsache, dass die Zellen in dieser Zeit sehr viel nachgefragter waren. Der Boden ist dennoch recht kalt, stellte Lotus fest, als er sich niederließ. Er nahm eine tendenziell einladende Haltung ein, die es 613 jedoch noch erlaubte, zu wählen, wie nah sie sich zu ihm gesellen wollte, ohne dass es unangenehm wurde. Schließlich konnte er es ihr nicht verübeln, dass seine Vertrauenspunkte bei ihr nicht gerade einen Headstart hatten. "Ich kenne das Gesicht", begann der schließlich etwas zögerlich. Vor langer Zeit wurde meine Mutter getötet..." Seine Stimme erstickte. Lotus wäre zugrunde gegangen damals, wäre er nicht in die wärmenden Pfoten eines Engels gefallen. Charon. Der Moment war ihm in den letzten Stunden immer wieder ins Gedächtnis geblitzt. "Also, erzähl, wer wurde dir genommen?"
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Glücklicherweise verstand 705, dass er führen sollte. Ein wenig erleichtert folgte sie dem Kater ohne wirklich zu wissen, was gleich passieren würde. Er schien sich wirklich um sie zu sorgen. Aber sie konnte sich auch gut vorstellen, dass er nur Informationen gewinnen wollte, um dann vor einem der Wächter gut dazustehen. Oder er wollte alleine mit ihr sein, um seine Krallen in sie zu graben. Sie waren hier immer noch im Labor, wo Gewalt an der Tagesordnung stand. Viele Gedanken darüber machte sie sich nicht. Es interessierte sie nicht, was seine Intention war. Das einzige, was sie wollte war Clan oder Tod. Es gab nichts dazwischen. 705 würde ihr sicherlich bei einem der beiden Dinge helfen können.
Als sie am von 705 gewählten Ort angekommen waren, ließ sie sich nieder. Es war kalt. So kalt wie die Herzen der Unterstützer des Systems im Labor. So kalt wie nirgendwo sonst. Verschlingend kalt. Es war das erste, was ihr hier im Labor aufgefallen war, als sie mit Chay hier her gekommen war. Nur durch seine Wärme war es aushaltbar gewesen. 705 begann zu sprechen und die Kätzin hob ihren Kopf ein wenig. Er erzählte, dass seine Mutter getötet worden war und sie spürte einen Stich in ihrem Herzen. 705 hatte zumindest eine Mutter gehabt, die bei ihm gewesen war. Ihre Mutter hatte sie gar nicht erst gewollt! So wie alle anderen auch... Mit leerem Blick starrte sie an dem Kater vorbei. Bis sie ihm wieder in die Augen blckte und antwortete: "Mir wurde niemand genommen." Kurz machte sie eine Pause und zögerte kurz, bevor sie weiter sprach. "Alle haben mich verlassen!" Niemand hatte sie genug geschätzt, um bei ihr zu bleiben. "Meine Mutter habe ich nicht einmal gesehen, mein Vater hat mich im Clan abgesetzt und ist nie wieder gekehrt!", sprach sie voller Schmerz. Ein wenig leiser fuhr sie fort: "Blüte ... ist verschwunden. Ich habe überall gesucht, aber sie ist nirgendwo!" Sie vermisste ihr Ziehmutter. Ob sie wohl noch im Clan war? Beziehungsweise wieder? Sie musste es unbedingt herausfinden. "Und Chayton? Der ist einfach weggerannt!", fuhr sie fast schon fauchend fort. Ihr Schmerz hatte sich in Wut verwandelt, ihre Stimme wurde lauter. "Er hat mich verletzt zurückgelassen! Er hat sich nicht einmal umgedreht!" Tränen füllten ihre Augen. "Er ist der einzige Grund, warum ich hier her gekommen bin! Und er ist der einzige Grund, warum ich jetzt hier in diesem verdammten Loch voll Kälte und Gewalt feststecke!" Mit jedem Wort war ihre Lautstärke ein wenig gestiegen, am Ende war sie fast am schreien. Es interessierte sie nicht mehr, ob es jemand hören würde. Was konnte sie noch verlieren. "Ich habe ihn geliebt.", flüsterte sie. "Er war der einzige, den ich hatte. Und er hat mich verlassen." Voller Abscheu blickte sie herum. "Ich existiere nur noch vor mich hin." Ihre Augen richteten sich wieder auf 705. "Du fragst also, wer mir genommen wurde? Mir wurde der Sinn im Leben genommen."
The Problem with strong emotions like love and grief is: They do not sound severe. You hear stories from others and you can be as rational as possible - in the end, you will be unprepared anyways.
Ja, da war er wieder: Der Sinn des Lebens. In dieser Zeit schienen wohl einige Katzen auf der Suche nach diesem zu sein. Und Lotus konnte es verstehen. Was war denn der Sinn des Lebens im Labor? Ums Überleben kämpfen? Die Art und Weise, mit der man ums Leben kämpfte, war nicht besonders schön: Man kämpfte nicht um Nahrung, um Wasser, um ein Dach über dem Kopf. Man kämpfte um Vorherrschaft - ein völlig unnötiges Konzept. Und wieder gelangten sie zu dem Punkt, den Lotus schon vor 711 vorgebracht hatte: Was dem Labor fehlte, waren die sozialen Werte, Liebe, Vertrauen, Freundschaft. "Ich wünsche mir, dass das Labor zu einem Ort der Freundschaft, des Vertrauens und der Ehre wird und nicht zu einer Wolke von Hass, Neid und Verrat. Zu einem Ort, wo Freundschaft und Liebe nicht mehr als Schwäche gilt. Dann ist das Labor nicht nur ein Zuhause, sondern ein Paradies." Er erinnerte sich an die Worte, die er heute Mittag vor 278 und 613 gesagt hatte. Lotus rückte etwas näher an 613 heran, sodass seine Seite das schneeweiße Fell berührt. Er legte den Kopf seitlich zwischen die Vorderpfoten, sodass er die Kätzin halbwegs angenehm anschauen konnte, und legte den Schweif über ihren Rücken. Ein einfaches Zeichen des Mitgefühls. Es war so viel mehr als zu sagen: "Ich kann dich verstehen." oder: "Das hört sich schlimm an." Es waren eine Lüge, zu behaupten man könnte sich den Schmerz des anderen vorstellen. "Erzähl mir von den beiden. Von deiner Zeit vor dem Labor. Ich kenne nicht viele Katzen, die von draußen Erfahrungen haben - meine Mutter hat nie darüber geredet, und generell war es unter 001 gefährlich, von der anderen Seite des Zauns zu schwärmen. Wie ist es dort, wie sind die Katzen dort? Wie viele sind dort?" Vielleicht würde es 613 helfen, über die Vergangenheit zu reden. Einfach jemand zu haben, der zuhörte, nicht verurteile und auch nicht beurteilte, was man sagte.
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Die junge Kätzin zuckte kurz zusammen, als 705's Schweif ihren Rücken berührte. Doch dann begann sie die Nähe, die Wärme die von dem Kater ausging zu genießen. Es gab ihr wieder ein wenig mehr Kraft. Die letzte Katze, die ihr so nahe gewesen war, war ihr Bruder. Gut, sie hatte heute morgen das Junge auf ihrem Rücken gehabt. Aber das konnte man nicht wirklich als Nähe bezeichnen. Als der Kater seine Frage stellte, schloss sie kurz die Augen. Es war so viel Zeit vergangen, seit sie das letzte Mal dort gewesen war, wo sie jetzt so unbedingt sein wollte. Sie öffnete ihre Augen wieder und schaute 705 an. "Im Vergleich zu hier ist dort draußen das Paradies.", begann sie. "Die Vögel singen wunderschöne Melodien, das Wasser fließt kraftvoll und kühl und mit jedem Atemzug wird man von tausenden wunderbaren Gerüchen durchströmt. Alles ist voller Farbe und man kann unendlich weit rennen, während der Wind einem leicht über das Fell streichelt. Man kann auf Bäume klettern, man kann saftige Beute jagen und man kann einfach tun, was man will." Seufzend blickte sie sich um. "Im Lager haben wir für jeden Rang einen Bau mit weichen Nestern, alle gepolstert mich Moos. Der Boden ist überall so weich und warm, selbst wenn die Erde im Winter hart und kalt ist, ist sie immer noch wärmer als der Boden im Labor." Die junge Kätzin schüttelte sich. "Und am wichtigsten: Keine einzige Katze muss um ihr Überleben fürchten, keine Katze muss Angst vor anderen Clanmitgliedern haben. Die Stärkeren helfen den Schwächeren, alle lieben einander wie Familienmitglieder. Ja, wir haben schon einen Anführer und einen zweiten Anführer, doch sie sind da, um uns zu beschützen, um die besten Entscheidungen zu fällen und für uns da zu sein. Und wir haben Heiler, die sich um kranke oder verletzte Katzen kümmern! Wir sorgen für einander! Jeder trägt etwas zur Gemeinschaft bei. Jäger jagen für alle, Kämpfer sorgen dafür, dass wir sicher sind. Jungkatzen werden ausgebildet, um in deren Fußstapfen zu treten und auch bestmöglich der Gemeinschaft dienen zu können!" Wie gerne sie jetzt einfach durch den Wald rennen würde. Einfach umherstreifen. Leise, um bloß keine Beute zu verscheuchen. Ob sie wohl überhaupt noch die verschiedenen Weisen einer Beute aufzulauern beherrschte? "Und bei uns hat jeder eine Identität. Jede noch so kleine und unscheinbare Katze. Niemandem wird eine stumpfe Nummer aufgezwungen. Jeder trägt den Namen, den er bei der Geburt bekommen hat, mit Stolz." Traurig blickte sie auf den dunklen Boden. Wann war das letzte Mal gewesen, dass sie jemand 'Schnee' genannt hatte? Auch ihre Einzigartigkeit war unter der Nummer 613 verloren gegangen. Sie war zu einer unter vielen anderen geworden. "Ich wünschte, zumindest das System hier wäre so wie im Clan... Ich meine, gibt es hier denn niemand anderen, der Liebe und Fürsorge präferiert!? Wie konnte es so weit kommen, dass Gewalt und Angst als normal angesehen wird!?"
Lotus spürte, wie sich die Anspannung in 613 langsam löste. "Im Vergleich zu hier ist draußen das Paradies...", begann sie von ihren Eindrücken von jenseits des Zauns zu schwärmen. Gespannt hörte Lotus zu. Es wurde ihm wahrlich warm ums Herz, so lebhaft war die Beschreibung von der Freiheit, der Natur, und der Familie, die der Clan sei. Lotus lehnte sich noch ein wenig näher an 613, bis sich ihre Seiten berührten. Ja, es klang wirklich nach dem Paradies. "Ich wünschte, zumindest das System hier wäre so wie im Clan... Ich meine, gibt es hier denn niemand anderen, der Liebe und Fürsorge präferiert!? Wie konnte es so weit kommen, dass Gewalt und Angst als normal angesehen wird!?" Lotus nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, bevor er eine Antwort gab: "Ist es nicht ironisch? Ich träume von einer Welt aus Liebe, Vertrauen und Frieden. Einer Welt, in der man sich um die Schwachen sorgt und die Starken respektiert. Es wird als Utopie abgetan, als Kindheitstraum, der niemals der Realität entsprechen kann. Und doch scheint sich genau so eine Welt hinter den Mauern dieses tristen Gebäudes zu befinden." "Ich bin hier im Labor geboren, musst du wissen. Für mich waren die Zustände hier schon immer so, ich kannte nichts anderes. Als Kind träumte ich nicht von Friede und Freude, sondern davon, alle anderen im Kampf zu besiegen und die stärkste Katze der Welt zu sein. Es wird den Katzen seit Jahren so eingebläut: Der Stärkere verdient das Leben und hat das Recht, die Schwächeren zu unterdrücken Das Labor ist, so wie es jetzt ist, gemacht für die Katzen, die genauso ihr Herz unterdrücken und verschließen vor dem Licht der Sonne und so zu den mitleidlosen Monstern werden, die Vertrauen als Schwäche ansehen, weil sie in dauernder paranoider Angst leben, ausgenutzt oder verraten zu werden. Ich beneide sie nicht, sag ich dir." "Und doch gibt es Katzen, für die Liebe und Fürsorge einen hohen Stellenwert hat, auch unter den oberen. Als meine Mutter den gewaltsamen Tod fand, nahm mich Charon - 200 - zu sich auf in ihre Familie, und sorgte sich um mich wie um ihre eigenen Kinder. Deshalb habe ich jetzt, nach 001's Tod, die Hoffnung, dass die Zeiten besser werden. So traurig es ist, dass eine Katze dafür sterben musste, dass erst wieder der Krieg ausbrechen muss, um den Frieden wiederentdecken zu können..."
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Schnee hörte dem Kater mit leerem Blick zu. Es machte Sinn, was er erzählte. Sie verstand, dass Katzen, die hier geboren waren, einfach nichts anderes kannten. Und trotzdem machte es nichts besser. Diese Katzen mussten aufwachen und ihren Verstand einschalten. Sie hatte einige Katzen getroffen, die selbst unter dieser Grausamkeit hier litten. Gab es nicht genug von denen um das System zu revolutionieren? Das würde doch allen helfen. Vermutlich abgesehen von den Anführern hier. Als der Kater davon erzählte, dass 200 Liebe und Fürsorge besitzen solle, hoben sich kurz ihre Augenbrauen. Erstens war 200 sicher niemand, der sowas ohne Grund machte, sondern eher weil ein anders Ziel verfolgt wurde. Außerdem waren die oberen Katzen, die "lieb" waren, einfach nur weniger schlimm. Schnee glaubte 705, dass es hier Katzen gab, denen Liebe und Fürsorge wichtig war. Denn sie hatte so einige selbst getroffen. Aber das waren keine der herrschenden Katzen gewesen. Allerdings gab ihr das eine Idee. Sie konnte doch versuchen, einen Mini-Clan hier zu gründen. Wo füreinander gesorgt wurde. Wo man sich aufeinander verlassen konnte. Wenn sie hier schon nicht wegkam, konnte sie doch versuchen, das beste draus zu machen. Die erste Schwierigkeit war nur, verbündete zu finden. Aber wenn sie ein paar der Katzen, die sie bisher so getroffen hatte, wiederfand, würde es bestimmt funktionieren. "Oh die Zeiten nach 001's Tod werden garantiert besser." Schnee grinste entschlossen. Sie hatte nicht erwartet, dass dieser Kater ihr ihre Hoffnung hätte wiedergeben können. Und ihr gleichzeitig so viele neue Ideen geben können. "Der Frieden wird wiederentdeckt werden. Dafür werde ich sorgen."
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