Dorian wanderte gedankenverloren durch die Laborräume. Und mit jedem Pfotenschritt, den er tat, ließ er einen Teil von sich zurück. Zurück an diesem Ort, der sein Leben so viele Monde lang geprägt hatte. Er verabschiedete sich von all den Erinnerungen und Ereignisse, die sich hier zugetragen hatten. Von einem nach dem anderen. Ganz als würde er mit einem Lächeln auf den Lippen durch alte Fotografien blättern, um sie dann den reinigenden Flammen zu übergeben. Er widmete jeder Katze, die seinen Weg gekreuzt hatte, einen Moment. Einen langen, langen Moment. Er dachte an seine Familie; Sky, Zero, Kayra, Acadia. Er dachte an seine Freunde; 622, 070, 111, 200. Wenn meine Pfoten mich hinaus in die weite Welt tragen, werden wir uns eines Tages wieder über den Weg laufen? Eines fernen Tages? Einen Wimpernschlag lang senkte er seinen Blick, ließ sich vom Schmerz überrollen. Ließ zu, dass er begriff, was seine Entscheidung in ihrer Gänze bedeutete. Ob ihr eines Tages begreifen werdet, dass es trotz allem keinen anderen Weg für mich gibt? Dass es ihn nie gegeben hat? Ja, schon seit Dorian an diesem Morgen erwacht war, fühlte er sich seltsam. Seltsam schwebend, seltsam befreit. Und mit jedem Schritt wurde sein Körper nun leichter. Als würden unsichtbare Lasten von seinen Schultern fallen. Lasten, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass er sie mit sich herumtrug. Ob ihr eines Tages begreifen werdet, dass ich euch verlassen muss, obwohl ihr mir alles bedeutet? Dass ich es tun muss, um mich nicht zwischen all den Gitterstäben zu verlieren? Eingehend betrachtete der sandbraune Kater die tristen Wände, die stechenden Lichter und die aneinandergereihten Zellen. Bis zum heutigen Tag hatte er geglaubt, dass die Gitterstäbe ihn auf ewig fesseln würden. Dass sie ihn bis ans Ende seiner Tage begleiten würden. Ob ihr eines Tages begreifen werdet, dass ich nie etwas mehr lieben werde, als das Gefühl, einem neuen Horizont entgegen zu schreiten? Etwas … oder jemanden. Dorians Seele hatte schon immer Schwingen besessen und nun war es endlich an der Zeit, dass er sie ausbreitete. Dass er den Käfig sprengte, der ihn seit dem Tag seiner Geburt gefangen hielt. Oh, er spürte, dass die Fesseln des Labors sich endlich von seinem Herzen lösten. Er hatte es in dem Moment gewusst, in dem er die Augen aufgeschlagen hatte. Er hatte gewusst, dass seine Fähigkeit ihn verlassen hatte. Dass er nie wieder zurückkehren würde. Zurück ins Leben. Nie wieder würde er zu sich kommen und erkennen, dass er dem Labor, seinem Gefängnis, noch immer nicht entflohen war. Nie wieder. Für Dorian war jede Bindung, die er einging, wie eine Kette, die er sich selbst um den Hals legte. Und selbst die gewaltvolle Bindung ans Leben war nur eine davon gewesen. Eine Kette. (Weil Dorian immer nur Ketten sah. Immer nur Ketten, niemals Möglichkeiten und Chancen.) Dorian ließ die Erinnerungen an die letzten Monde los. Ließ sie hinfort treiben wie Federn im Wind; auf dass sie ihn nie wieder eine Bürde sein würden. Erst dann blickte er auf (und in eine neue Zukunft).
Und da war er; Horus. Das letzte Gesicht, das Dorian gesehen hatte, bevor das eiskalte Wasser ihn verschlungen hatte. Bevor die Tiefe ihn verschlungen hatte, obwohl er sich nach dem Himmel sehnte. Bevor nur noch Dunkelheit war, wo es einst Licht gegeben hatte. Und Tod, wo Leben sein sollte. “Horus“, Dorians Stimme klang tonlos. Wie ein Echo, das in weiter Ferne verhallte. (Ein Teil von Dorian würde nie vergessen, dass Horus ihn nicht hatte retten können.) “Ich habe nach dir gesucht.“ (Ein Teil von Dorian würde nie vergessen, dass Horus ihn einen Augenblick lang verstanden hatte.) Es war, als wären sie zurück in einer verschneiten Nacht unter dem endlosen Sternenhimmel. Als träumten sie erneut von der Endlosigkeit des Horizonts. Und vom Ende ihrer Einsamkeit. (Ein Teil von Dorian würde Horus nie vergessen können.) Horus, wirst auch du mir eines Tages verzeihen? Wirst du mir vergeben?
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Re: [ZELL] Tides will bring me back to you
[ 55295 ] Fr März 22, 2024 11:12 pm
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„Horus“ 161
word count: 741 fähigkeit: hunger | steckbrief Standort: zellenräume
Es waren nicht länger die Gesichter seiner Opfer, die ihn im Schlaf verfolgten. Wenn er die Augen schloss, in dem jämmerlichen Versuch, Frieden in seiner Bewusstlosigkeit zu finden, so war es nicht länger der eiserne Gestank nach Blut, welcher seine Sinne betäubte; nicht mehr das verzweifelte Flehen und Betteln von Gesichtslosen, das ihm durch den Kopf drang.
Es war die kalte Winterbrise bei Nacht. Das unschuldige Plätschern von Wasser. (Eis, das brach.)
Hatte er seine Existent seit seiner Ankunft im Labor verabscheut, so wünschte er sich den Tod nun noch schmerzlicher herbei. In seiner Brust schlug nicht länger das Herz einer Bestie, nein, nun war es auch das eines Feiglings.
Das Eis war unter den Pfoten des anderen Katers entzwei gebrochen, noch ehe Horus ihn hätte warnen können. Und dabei hatte die Befürchtung ihn schon in den unverhofften Momenten zuvor verfolgt. Manchmal, wenn sein Gewissen, geplagt von Schuldgefühlen, es ihm erlaubte, so ergriff die Chance und spielte jene Nacht vor seinem geistigen Auge ab; immer wieder, Schritt für Schritt; Wort für Wort. Er hatte den ersten Schritt auf den Teich zugemacht. Und der Andere war ihm gefolgt; leichten Schrittes (leichten Herzens?). Seine eigenen Augen hatten ihm in der Eisfläche entgegengeblickt und Horus wünschte sich, er hätte sich abgewandt; sich zurückgezogen in das Labor in der Hoffnung, Dorian wäre ihm (leichten Schrittes) gefolgt. Sie hätten der Kälte gemeinsam entfliehen können doch – hatte er das gewollt? Der Frost und das Eis hatten nach ihm gerufen, dort draußen, wo er ab und an noch die fernen Gerüche des Waldes wahrnehmen hat können. Ferne Erinnerungen aus einer Welt die barmherziger war als das ewige Grau. Er hatte nicht fliehen wollten; ebenso wenig wie Dorian. Dort draußen, in der zarten Umarmung des Winters, waren einander zwei Seelen begegnet, deren Sehnsucht womöglich selben Ursprungs war.
(Er hasste den anderen Kater.)
Nein. Die Gefühle der Verbitterung und des Zorns waren nicht gegen Dorian gerichtet. (Nicht wahr?) Er war geblendet von Wut und Abscheu ganz gleich, wer ihm da gegenüberstand.
(Es gab nur Einen, der all jenes verdient hätte; all die hässlichen Worte, die da in Horus' Herz brodelten. Doch solange er seine Zähne nicht in sein eigenes Spiegelbild würde schlagen können, musste er sie an jemand anderen richten.)
In jener Nacht war es nicht der Hunger gewesen, welcher einem anderen Geschöpf das Leben gekostet hatte. Egal, wie sehr Horus seine Entscheidung auf den bitterlichen Fluch, den die Menschen im Labor über ihn gelegt hatten, abzuschieben versuchte, so wusste er tief in seinem Inneren, dass er es diesmal nicht tun konnte; diesmal konnte er sich nicht in dessen Schatten verbergen, diesmal würde sein Selbstmitleid sein schlechtes Gewissen nicht lindern können.
Als das Eis brach, hatte er nach ihm gegriffen. Seine Klauen hatten sich in seinen nassen Pelz geschlagen; sein Kiefer hatte sich um sein zartes Fleisch geschlossen, ohne es zu reißen; ohne Blut fließen zu lassen, jenes Gift, das den Hunger aus seinem Schlaf gerissen hätte. Doch als Dorian's eisiger Leib vor seinen Pfoten im Schnee lag, durchnässt, triefend (leblos) war es dennoch, als hätte sich eine unsichtbare Macht über ihn gelegt. Angst. Er hätte das kalte Wasser aus Dorian's Lungen drängen müssen. Er hätte ihm helfen sollen.
Doch die Wärme, die unter Dorian's Haut pulsierte, hatte Horus zum Feigling werden lassen. Wenn der Hunger auch nur einen Hauch davon wahrgenommen hätte; die entfernte Andeutung von all dem Blut, das in seinem regungslosen Körper pulsierte, all dem Leben oh, er wäre unbarmherzig; gnadenlos gewesen.
Er wäre ohnehin gestorben, redete er sich ein. Wäre Dorian dem Eis in seinen Lungen nicht zum Opfer gefallen; ja, dann der Bestie, welche in Horus erbärmlichen Herzen lauerte. Und war es nicht friedlicher, den ewigen Schlaf auf eine solche Weise zu finden? War es nicht friedlicher als das Reißen von Fleisch; das Brechen von Knochen?
(Oh, Horus, du gottverdammter Heuchler.)
Als er Dorian's Stimme vernahm, ruhig und tonlos, glaubte er, von dessen Geist heimgesucht zu werden. Und für einen Augenblick wollte er ihn anflehen: ja, strafe mich; treibe mich in den Wahnsinn bis selbst der Hunger mich nicht mehr aufhalten kann; bis ich nur noch einen letzten Mord verübe, ein aller letztes Mal. Doch als er den Kopf wandte, war es kein rachesüchtiger Geist, der ihm da entgegensah. Es war (sein Blick so... lebendig)
"Dorian." Sein Name wich ihm wie ein zarter Windzug von den Lippen. Er starrte den Anderen an, viel zu lang; ungläubig (erleichtert?). Für einen Moment fand er die Worte nicht, aber "Du lebst."
Dorian tappte langsam, beinahe vorsichtig näher. Sein Blick war unverwandt auf den anderen Kater gerichtet. Sein Blick, sein Herz, seine Seele. Da lag etwas Schweres in Horus‘ Augen. (In Horus wunderschönen, goldbraunen Augen.) Etwas, das den Sandbraunen zurückhielt. Ein flüchtiger Glanz, ein zerbrechlicher Schimmer. Ein Gefühl. Und Dorian konnte nur zurückstarren; verständnislos, verwirrt. Weil er nicht deuten konnte, was er da sah. Weil er einige Wimpernschläge zu lange brauchte, um die Zusammenhänge zu begreifen. Weil er nicht erwartet hatte, dass es Schuld war, die in Horus‘ Seelenspiegeln aufleuchtete. Eine tiefe, tiefe Schuld. Es war, als würden sie wieder auf brüchigen Eis stehen. Als könnte jeder leichtsinnige Schritt, jeder kleinste Ausrutscher, das Band zwischen ihnen zerreißen. Nur, dass es dieses Mal kein Morgen geben würde. Wenn das Eis erneut zerbrach, dann würde es ihr Ende ankündigen. Denn natürlich war dies das Ende. Es war das Ende und es war ein Anfang. (Aber es war nicht ihr Anfang.)
“Ich lebe …“, hauchte er zurück. Er hauchte, weil es ihn ein winziges bisschen zerbrach. Weil er mit jedem Wimpernschlag mehr begriff, warum Horus’ Blick so anders war, so verändert. Aber er konnte nicht aussprechen, konnte nicht in Worte fassen, was er wirklich hatte sagen wollte. Ich lebe, ich lebe, ich lebe. Ich lebe; weil nicht einmal der Tod es wagt, mir Fesseln anzulegen. Ich lebe; ein allerletztes Mal und gerade deshalb mehr als jemals zuvor. Und ich lebe; für die Freiheit, für unbekannte Horizonte und die Weite der Welt.
“Dich trifft keine Schuld“, setzte er dann an, ohne zu wissen, wohin ihn seine Worte führen würden, “Für nichts.“ Er hangelte sich an einem dünnen Strick entlang, immer in der Angst, am Ende zu fallen. Ich selbst war es, der das Eis gewählt. Der die Gefahr gewählt hat. Und - oh, Horus! - ich würde es wieder tun. Heute, morgen, übermorgen. Ich würde es immer tun. Und dann, senkte er den Blick, weil er nicht ertragen konnte, Horus ins Gesicht zu blicken, während er ihm eine weitere Wahrheit offenbarte. Eine Wahrheit, die er endlich akzeptiert hatte. “Horus“, seine Stimme begann zu zittern, “Ich wollte nicht gerettet werden.“ Zumindest nicht vor dem Eis, nicht vor dem Tod. Denn er hatte erst sterben müssen, um zu erkennen, was es bedeutete, zu leben. “Ich wollte nur verstanden werden.“ Weil das für Dorian immer genug sein würde; Verständnis. Verständnis, für die Sehnsucht in seinem Herzen. Für ein Verlangen, das ihn von innen heraus verbrannte. Dafür, dass er immer die hellste Flamme sein würde, die am schnellsten erlosch. Und dafür, dass er immer die Gefahr und nie die Sicherheit wählen würde. Das Neue anstatt des Bekannten. Horus, es gibt nichts zu verzeihen.