Morgens (4 Uhr - 11 Uhr) Der dichte Schneefall der Nacht hat sich in den Morgenstunden zu einem Schneesturm gesteigert. Eine weiße Decke überzieht nun vollständig den Boden und verbirgt die Risse, die das Erdbeben im Clanterritorium hinterlassen hat, beinahe vollständig. Vorsicht ist geboten! Der Schnee gibt leicht unter den Schritten einer unvorsichtigen Katze nach und es besteht die Gefahr, einzubrechen. Im Außenbereich des Labors sind alle Spuren von vergangener Nacht längst Geschichte. Und auch neue Pfotenschritte werden innerhalb kürzester Zeit vom Schnee vollständig begraben. Ob sich Katzen diesen Umstand zunutze machen? Im Gegensatz zum Vortag scheint es wärmer innerhalb der Zellenräume zu sein - ob die Forscher dafür gesorgt haben? Einzig die Kanalisation ist eiskalt.
Amy setzte eine Pfote vor die andere und schritt an schier endlosen Zellenreihen vorbei. Was für ein seltsamer Ort, ihre roten Augen glitten langsam über die Bewohner des Labors, Voller gebrochener Katzen und geschundener Seelen. Sie bedachte die vergitterten Fenster mit einem langen, irritierten Blick. Ein Gefängnis, blasse Flammen liebkosten ihr helles Fell und tanzten wie Staubpartikel durch die Luft, Für Monster, die von den Menschen erschaffen wurden. Die eisige Kälte kroch in ihre Beine und setzte sich in ihrem Körper fest, der sich seltsam fremd anfühlte, seit Nadeln ihre Haut durchstoßen hatten. Amys Verstand war noch immer von den Experimenten getrübt, ihr Geist fühlte sich wie benebelt an. Und ihre Erinnerungen waren fern. Als hätte die Feuerbändigerin sie von einer anderen Katze gestohlen.
Sie stieß sich vom Boden ab und sprang auf eine Zelle, die aussah wie all die anderen. Von ihrer erhöhten Position aus starrte die nach draußen, wo Schneeflocken wild durcheinander wirbelten. Wie weiße Sterne, die vom Himmel stürzten. Amy hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, zu fallen. Sie hatte ihr ganzes Leben in einer kleinen Wohnung zwischen den Wolken verbracht. In einem Gebäude, das so hoch gewesen war, dass man die Erde von dort aus nicht gesehen hatte. Nur den Himmel und den Horizont.
Amys Eltern blitzten vor ihrem inneren Auge auf; Oscar und Rachel. Harte Blicke, noch härtere Worte. Zwei Katzen, die vom Leben in der Höhe geformt worden waren. Die sich selbst als die Elite ansahen, als die Erwählten. Und Amy war ihre perfekte Tochter gewesen. Die Nachfolgerin, die Erbin. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, hätte man sie nicht von Kindesbeinen an dazu erzogen, diese Rolle anzunehmen? Hätte man sie nicht geformt und verbogen, bis sie dem unbarmherzigen Maßstab ihrer Eltern entsprach? Nun, es war erträglich gewesen. Sie hatte immerhin nie etwas Anderes gekannt. Erträglich, bis ihre Geschwister auf die Welt gekommen waren und ihre Mutter ihren letzten Atemzug getan hatte. Denn Rachel war für Amy ein Licht in der Dunkelheit gewesen, ein Stern am Nachthimmel. (Das war der erste Tag gewesen, an dem sie sich gefragt hatte, wie es wäre, zu fallen.)
Die braune Kätzin erhob sich und verließ ihren eisernen Thron. Als sie erneut durch die wirren Gänge des Labors stolzierte, erinnerte sie sich daran, wie es gewesen war, durch die verwinkelten Gassen der großen Stadt zu laufen. Frische Luft zu atmen und den Wind in ihrem Pelz zu spüren. Den Lärm der Donnerwege zu hören und den Gestank der Zweibeiner zu riechen. Sie war ihrem Zuhause nur an wenigen, kostbaren Tagen entkommen. Tage, die sich angefühlt hatten, als würde sie durch einen Traum schreiten. Traum … oder Albtraum? Die Straßen des Zweibeinerorts waren voller Gefahren und Grausamkeit gewesen. Voller seltsamer Gestalten und Gesichter. Spitze Zähne, scharfe Krallen. Lautes Kläffen, verzweifeltes Brüllen. So viele Bedrohungen, so viele Möglichkeiten. Oh ja, Amy hatte sich wie eine Göttin gefühlt, die aus der Höhe herabgestiegen war, um sich mit den Sterblichen zu umgeben.
Und sie erinnerte sich an ihn, an Glenn. An einen Streuner mit Herbstaugen und Haselnussfell. An einen Kater, der sein Herz und seine Seele auf der Zunge getragen hatte. Aber selbst wenn sie mit ihm zusammen gewesen war, hatte Amy nie vergessen können, dass sie nicht war wie er. Kein Kind der Gassen, sondern eine Tochter des Himmels. Schmerz fuhr ihr in die Brust, heißer als jedes Feuer und schwärzer als jede Nacht. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung unter einem sterbendem Baum, der den Widrigkeiten der Stadt getrotzt hatte. An ein Lied, das Glenn nur für sie gesungen hatte. Die Melodie durchzuckte ihre Gedanken wie ein Blitz im Unwetter, der ihr Herz entzwei spaltete. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem ihr Vater ihn gefunden hatte. An Augen ohne Glanz und eine Stimme ohne Ton. An Krallen, in denen sich die Lichter der Stadt spiegelten. Amys Herz übersprang einen Schlag und pochte dann viel zu schnell. Schneller und schneller und schneller. Sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war, der Wärme in Glenns Augen beim Verblassen zuzusehen. Und wie es sich angefühlt hatte, machtlos zu sein. So vollkommen machtlos. (Das war der zweite Tag gewesen, an dem sie sich gefragt hatte, wie es wäre, zu fallen.)
Amy hatte sich immer gefragt, ob es anders gekommen wäre, hätte ihre Mutter noch gelebt. Rachel war immer die Gütigere gewesen, die Gnädigere. Sie hatte einen guten Einfluss auf Oscar gehabt, hatte ihn weicher und umgänglicher gemacht. Die Geschwister der Kätzin hatten nie verstanden, was es für sie bedeutet hatte, das Ein und Alles des Vaters zu sein. Der letzte Funke seiner Gefährtin, den er mit aller Macht bewahren musste. Ein Funke, den er nicht teilen konnte, mit nichts und niemanden. Den er nicht freilassen konnte. Die längste Zeit ihres Lebens war Amy ein Vogel im goldenen Käfig gewesen. Eine Gefangene in einer Existenz, die ihr vorgegeben worden war. Es hatte einen Weg für sie gegeben, den sie beschreiten musste. Immer weiter und weiter, bis er sie ins Nirgendwo führte. An diesen Ort, voller Gitter und Zellen.
Und dann war er da, ein Kater mit gesplitterten Schwingen und gebrochenem Herzen. “Bruder.“ Sie erkannte ihn, auch wenn der Himmel in seinen Augen nun schwarz war wie Tinte. “Orion“, spie er ihr mit hohler Stimme entgegen. Orion. Ein neuer Name, ein neues Gewand. Amy zog eine Braue nach oben und näherte sich mit zusammengekniffenen Augen. Woher kam der Hass, der in seinen Augen brannte? Dieser hässliche, hässliche Hass? Sie konnte ihn förmlich spüren, zäh wie Teer und heiß wie Feuer. Lächerlich. Und doch griff dieser groteske Hass auf sie über, entzündete ihr Herz und ihre Augen. Flammen überliefen ihren Körper wie ein Schauder. “Orion“, ihre Stimme schnitt durch die Kühle Luft wie eine Klinge, “Vergiss nicht, dass ich dich gekannt habe, bevor du nach den Sternen gegriffen hast.“Vergiss nicht, dass ich dich besser kenne, als jeder andere. (Vielleicht war das der dritte Tag werden, an dem sie sich fragen würde, wie es wäre, zu fallen.)
(c) The Thing That Wrecks You, T. Townes & B. Adams
Zellenräume
“Amélia“, blinde Wut erfüllte Orions ganzes Sein und brach das Eis, das sich um seine Seele gelegt hatte, “Warum bist du hier?“Hier, an diesem Ort, der nur mir gehören sollte. In einem Königreich voller Monster und Bestien. Gläserne Krallen berührten den kalten Boden, sein Schweif peitschte unkontrolliert hin und her. In einem vergitterten Gefängnis, das nicht weiter vom Himmel entfernt sein könnte. Vom Himmel, den du immer für dich beansprucht hast, als wäre er dein rechtmäßiges Erbe. Die Dunkelheit in seinen Augen wurde tiefer. Wie ein Abgrund, der bis in die Endlosigkeit aufklaffte. Das Labor war die einzige Chance für einen Neuanfang gewesen, die der Geflügelte je in den Pfoten gehalten hatte. Die einzige Chance, seine Vergangenheit abzustreifen wie eine zweite Haut und sich selbst neu zu erfinden. Ich hätte ein Herrscher sein können, ein Krieger, ein Kämpfer, er starrte ausdruckslos in die roten Augen seiner Schwester, die gekommen war, um über ihn zu richten, Ich hätte alles sein können. Alles und nichts. Ein Fauchen kroch seine Kehle empor. Es gab tausend Rollen, die ich hätte spielen können. Tausend Figuren, die ich hätte bewegen können. Von einem Wimpernschlag zum nächsten war all das verloren. Ich hatte eine Wahl. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine Wahl. Sein Nackenfell sträubte sich, die Scherben in seinen Schwingen klirrten. Und jetzt bist du gekommen, um sie mir zu entreißen, nicht wahr? Damit ich niemals die Möglichkeit habe, ein Zeichen für mich zu setzen. Ein Zeichen zu setzen und in Erinnerung zu bleiben. Orion hatte sich gewünscht, die Welt zu bewegen. Aber nun stand er erneut vor einer unüberwindbaren Mauer. Vor einem Hindernis, das er nie bezwingen würde. Vor Amélia, vor seiner Vergangenheit. Für mich gab es immer nur die Illusion eines Entkommens, nicht wahr, Schwester? Ich war immer die Beute und ihr die Jäger. Wahrscheinlich hättet ihr mich selbst dann noch gefunden, wenn ich bis ans Ende der Welt gelaufen wäre …
“Warum ich hier bin?“, ein höhnisches Schnauben verließ Amys Mund, “Vielleicht bin ich genau wie du meiner Verantwortlichkeit entflohen.“ Sie näherte sich ihm wie ein Raubtier auf Beutesuche. Als wäre sie immer noch stärker und könnte ihn mit einer einzelnen Bewegung in die Knie zwingen. Aber Orion war nicht länger schwach, er war nicht länger wehrlos. (Warum fühlte er sich dann so, wenn er in ihre feurigen Augen schaute?) “Ich bin nicht mehr der Kater, den du in Erinnerung hast“, die Worte waren fast schon ein Knurren und zeugten davon, wie wenig er sich unter Kontrolle hatte. Es brauchte nicht mehr als ihren Anblick, um das Blut des Grauen zum Kochen zu bringen und ihn in Rage zu versetzen. Selbst nach vielen, vielen Monden, hatte sie noch Macht über ihn. So viel Macht. Warum gewährte er sie ihr nur? “Der Bruder, den du kanntest, ist tot“, sein Blick war scharf wie Glas, “Ich habe ihm die Krallen ins Herz gerammt und seine Seele in tausend Teile zersplittert.“ Ich habe ihn zerstört, den Träumer in meinem Herzen, und bin zum König dieses toten Reiches geworden.
Amys Miene war starr und ihre Augen undurchdringlich, als sie ihren Bruder einer eingehenden Musterung unterzog. War er wirklich fort? Seine eisigen Augen lockten sie, ihm zu glauben, aber die Sterne, die in seinen Schwingen glitzerten, ließen sie hoffen. “Du hast dich in der Tat verändert“, ein Hauch von Abschätzigkeit schwang in ihrer klaren, selbstbestimmten Stimme mit. Aber das Leben zieht jeden von uns in Mitleidenschaft, nicht nur dich, Kleiner. Als nur noch wenige Pfotenlängen sie von ihrem Bruder trennten, hielt sie inne und lächelte ihn kühl an. Einen Schritt weiter und die Anspannung würde wie eine schleichende Krankheit in deine Glieder kriechen. Seine Zunge mochte scharf sein, aber er würde sie niemals täuschen können. Einen Schritt weiter und ich würde eine Grenze überschreiten. Er konnte ihr nichts vormachen, weil sie genug Zeit gehabt hatte, um ihn zu studieren, mit all seinen Eigenheiten und Fehlern. Früher warst du so leise, so still, ihre Lippen kräuselten sich, Weil deine Gedanken zu laut waren. Es amüsierte die Kätzin, wie sehr er sich bemühte, erwachsen zu wirken. Wie sehr er darum rang, ihr ein Bild zu zeigen, das er in seinem Geist von sich selbst gezeichnet hatte. Wie lange kannst du meinen Blick noch ertragen, bevor du unweigerlich einknickst? Sie legte den Kopf schief und setzte eine Pfote auf die unsichtbare Grenzlinie.
“Schau dich an, Orion“, spottete sie mit geschürzten Lippen, “Schau an, wozu du geworden bist. Wer du geworden bist.“ Das Labor war wahrlich in der Lage, eine Katze von innen heraus zu vergiften und langsam zu zerstören. Denn wenn Orion eines war, dann gebrochen. Du warst ein närrischer Träumer, ein großer Denker, Melancholie bohrte sich wie ein Dorn in ihre Brust, Du warst ein hoffnungsloser Idealist in einer Welt voller Ungerechtigkeit und Grausamkeit. Ein schweres, nasses Gefühl sickerte aus der neuen Wunde in ihrem Herzen. Wie Blut. Du warst frei, Orion. Einen Wimpernschlag lang wandte die Kätzin den Blick ab, weil sie den Anblick ihres Bruders nicht mehr ertragen konnte. Und nun liegst du in selbst geschmiedeten Ketten. Nun bist du eine Marionette im großen Spiel. Wenn Amy in seine düsteren Augen schaute, dann kroch ein Schauder durch ihr braunes Fell. Da lag keine Hoffnung mehr in den Seelenspiegeln des Grauen. Keine Hoffnung und auch keine Zuversicht. Du hast deinen Weg längst gewählt … Vielleicht war er wirklich fort, der Kater von einst. (Der Kater, den sie gehasst und geliebt hatte.) Du hast deinen Traum längst zu Ende geträumt, nicht wahr?
Die Wahrheit brach in Wellen über Amy herein. In stürmischen Wellen, die sie fast ins Wanken brachten. Sie presste ihren Kiefer fest aufeinander und schloss einen Wimpernschlag lang die roten Augen. Nein … nein, nein, nein. Aber im Gegensatz zu ihrem kleinen Bruder bewahrte sie die Kontrolle, bis zuletzt. “Du bist ihm ähnlich“, Verzweiflung hatte Amy schon immer zu einer unbarmherzigen Person gemacht, “Unserem Vater.“Ja, du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Bitterkeit nährte sich an der schweren Melancholie und den schmerzhaften Erinnerungen, bis sie etwas Neues aus den Trümmern formte. Etwas Bösartiges. Vielleicht hätte er dich erwählen sollen, liebster Bruder. Vielleicht hätte ich zusehen sollen, wie er dich in ein emotionales Wrack verwandelt. Amy entblößte ihre nadelspitzen Zähne. Oh, du bist so formbar, so manipulierbar. Glaubst du wirklich, du hättest es auch nur einen Moment ertragen, in meinen Pfotenspuren zu stehen? Meinen Platz einzunehmen, meine Rolle zu spielen?
Sie konnte zusehen, wie bei ihren Worten etwas in Orion zu Bruch ging. “Wirst du je aufhören, mein Leben zu zerstören, Amy?“, die angespannten Gesichtszüge des Geflügelten erschlaffen, wurden ausdruckslos und leer. Ein abgehaktes, ersticktes Lachen entwich der Kätzin. “Wirst du je aufhören, mich für all deine Fehler verantwortlich zu machen, Orion?“, sie fuhr ihre Krallen aus, “Für deine Schwäche, für dein Versagen?“ Flammen des Zorns züngelten hell und heiß über ihren Körper. Wann beginnt dein Kartenhaus aus Lügen einzustürzen? Amy wandte ihren Blick nicht von ihrem Bruder ab. Wo einst helles Sternenlicht gewesen war, erkannte sie jetzt nichts als tiefste Finsternis. “Warum sollte ich dich zerstören?“, sie hob ihr Kinn an und schüttelte den Kopf, “Du läufst deiner eigenen Vernichtung doch längst entgegen.“ Du bist verloren, kleiner Bruder. Du hast den Fall gewählt und nichts wird dich jetzt noch retten können. Woran du wohl zugrunde gehen wirst? An deinem schwelendem Hass, an deiner glühenden Verzweiflung? Oder doch an der alles verschlingenden Leere?
(c) The Thing That Wrecks You, T. Townes & B. Adams
Zellenräume
Orion warf seine Maske fort, sodass die Leere, die sich wie Gift um seine Seele wand, nun auch in seine Gesichtszüge sickerte. Der Graue gewährte ihr Raum, weil er wusste, dass die Gleichgültigkeit ihn beschützen würde. Weil sie ihn retten würde, vor den Worten, die sich sonst in seine Brust gerammt hätten wie ein Schwert. Er besann sich darauf, dass er ein König mit einem Herz aus Eis war und kein Feuer es je schmelzen würde. Er fühlte schon lange nichts mehr, außer seinem schwelenden Hass. Er fühlte nichts, er würde nie wieder fühlen. Denn die Emotionen des Geflügelten waren ein fruchtbarer Boden für seine Schwächen und Fehler. Der Träumer in ihm ernährte sich von diesen zarten, zügellosen Empfindungen. Wenn Orion bestehen wollte, wenn er dieses Spiel gewinnen wollte, dann musste er seine Makel ein für alle Mal vernichten. Damit sie erstickten wie eine Flamme, der man den Sauerstoff nahm. Aber natürlich war das Ende des Fühlens auch der Tod der Zuversicht gewesen. Die Hoffnung auf eine Zukunft war bedeutungslos, wenn man sich weigerte, an sie zu glauben, nicht?
Orions starrer Blick begegnete Amys Augen, die so rot waren wie frisch vergossenes Blut. Er hatte seine Schwester schon immer dafür gehasst, dass sie schonungslose Wahrheiten aussprach, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Und dass sie nicht davor zurückschreckte, Kritik zu üben. Was spielte es für eine Rolle, wenn er wie der Vater geworden war? Wenn ihre Methoden sich glichen, ihre Ansichten sich ähnelten? Anspannung spülte über ihn hinweg wie eine Welle und ließ ihn nicht los, bis sie jede Faser seines Körpers zum Klingen gebracht hatte. Wie eine stumme Melodie summte sie nun in seinen Gliedern, die sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr verkrampften. Oh, wen kümmerte das alles, solange er nur jede Spur vernichtete, die der Welt von seinem Vater bleiben würde? Von seinem Vater, und von ihm selbst. Er fuhr seine gläsernen Krallen aus und bleckte die nadelspitzen Zähne.
Doch der Geflügelte sah der braunen Kätzin an, dass sie sich jeden Moment von ihm abwenden würde. Von ihm, von Orion. Als wäre er ihrer Aufmerksamkeit nicht wert. Noch immer nicht. Wann wirst du mich endlich sehen? Wann wirst du mehr in mir sehen, als einen Narren? Der Hass in seinen Augen entbrannte zu einem dunklen Wildfeuer, das alles und jeden verzehren wollte. Egal wie hart er arbeitete oder kämpfte, er würde sich die Zuneigung seiner Schwester - seiner Familie! - niemals verdienen. Warum also eine aussichtslose Schlacht ausfechten? Seine Krallen bröselten, weil er sie zu fest auf den harten Untergrund presste. Auch nach all den Monden war Orion es nicht wert, dass man ihn beachtete. Dass man ihm Anerkennung zuteilwerden ließ. Dass man ihm zuhörte, dass man ihn liebte. So war es schon immer gewesen, warum sollte es anders sein? Warum sollte die Welt sich (für ihn) verändert haben?
Orions Schweif peitschte hin und her, seine Schnurrhaare zuckten wütend. Ich werde dich auslöschen. Ausradieren. Bis keine Katze mehr deinen Namen kennt. Bis deine Nummer verblasst ist und sogar 022 sie vergessen hat. Der Hass brannte hell in Orion und er hieß diese eine Empfindung, die er noch zulassen konnte, mit offenen Armen willkommen. Der Zorn füllte ihn aus, dämpfte seine Sinne und brachte seinen Schmerz zum Verstummen. Es war, als würde Eis durch seine Adern rinnen und alles in ihm mit Raureif und Frost überziehen. Ich werde unserer Geschichte ein Ende machen, Amélia. Und wenn ich dafür vom Himmel stürzen und verglühen muss.
“Ich hasse dich“, Orions Stimme war scharf wie Glas und kalt wie Schnee. Das ist es also, was du dir einredest, liebster Bruder … Amy hob den Kopf, neigte ihn leicht in seine Richtung und zog eine Braue nach oben. Wie kannst du jemanden hassen, den du nicht kennst? Denn das hast du nie; mich gekannt. Amy zuckte abfällig mit einem Ohr. Du hast immer nur dich selbst gesehen. Und das, was du nicht haben konntest. Sie verengte ihre Augen und schüttelte resigniert den Kopf. Du warst und bist ein Gefangener deines eigenen Verstandes, Orion. Als ihr Schweif durch die Luft peitschte, flatterte das rote Band an ihrem Kopf. Wie ein Vorbote des Feuers, das in ihrem Herzen knisterte.
“Ich habe dich vor Vater beschützt“, Amy wusste, dass sie keine Flammen brauchte, um Orion zu verletzen. Um ihn in die Flucht zu schlagen. Denn das, was er hinter tausend Masken verbarg, war schon immer der verwundbarste Teil seines Selbst gewesen. “Ich habe dich vor der ganzen verdammten Welt beschützt“, sie erwiderte seinen abweisenden Blick mit erstaunlicher Geduld und beobachtete, wie die Wut langsam aber sicher die Gewalt über den Körper des Katers übernahm. Ein Schauder kroch über Orions grauen Pelz, sein Nackenfell stellte sich auf und seine Krallen funkelten bedrohlich im künstlichen Licht des Labors. Früher hast du so oft mit mir gerungen, immer in der Hoffnung, eines Tages zu siegen. Welche neuen Tricks hast du dir einfallen lassen, um mich in die Knie zu zwingen, Kleiner? Orion mochte noch so diszipliniert sein, aber seine Augen verrieten ihn. Sie waren voller Emotionen, wenn man wusste, wo man danach suchen musste. Und Amy wusste es. Oh ja, sie wusste es! Die kleinste Regung genügte ihr, um seinen Angriff kommen zu sehen, bevor Orion überhaupt die Chance hatte, sich in Bewegung zu setzen. Du kannst noch so sehr behaupten, du hättest dich verändert, Orion. Aber im Kern bist du derselbe verlorene Kater. Scherben regneten wie Sternschnuppen auf Amy nieder, aber ihr Feuer schmolz sie ein und ließ das flüssige Glas zischend auf den Fliesenboden tropfen.
Du kannst diesen Kampf nicht gewinnen, Bruder. Das konntest du nie. Flammenringe so rot wie Amys Augen peitschten Orion entgegen, während ein winziges Sonnensymbol über ihrem Kopf aufleuchtete. Nicht einmal die Krone auf deinem Haupt wird dich je zu einem König machen. Du warst nie dazu geeignet, an der Spitze zu stehen. Ich wusste von Anfang an, dass es dich zerstören würde. Orion bewegte sich schneller und zielstrebiger als früher. Und im Aufblitzen seiner Krallen und Zähne lag eine Gefahr verborgen, die nicht einmal Amy von der Pfote weisen konnte. Das reicht dennoch nicht. “Ich konnte dich vor Vater und der Welt beschützen“, presste sie hervor, “Aber niemals vor dir selbst, Orion.“ Er strauchelte, einen Wimpernschlag lang. Und das war alles, was Amy brauchte, um seinen aussichtslosen Angriffen ein schnelles, vehementes Ende mit ihren Flammen zu setzen. Der Gegenschlag ließ ihn mit großen Augen zurückweichen. Mit großen, dunklen Augen, in denen sich Amys Feuer spiegelte, bevor es von Orions eigenem Hass verschlungen wurde. Vor dir selbst kannst nur du alleine dich schützen, Bruder.
Während die Ringe aus Feuer sie voneinander abschnitten, wandte Amy sich ab. Die Geschwister mochten vielleicht eine gemeinsame Vergangenheit haben, aber es gab keine Zukunft für sie beide.