Erneut zuckte Levox zusammen. Diesmal war es die Flanke, die einen Moment lang in lodernd stechenden Schmerz ausbrach, bevor er den Schmerz wieder verdrängen konnte. Verdammte Fähigkeit. Über den Verlauf des Tages war sie ihm unangenehm oft auf die Nerven gegangen - beginnend bei dem Sturz heute morgen, der nur deswegen passiert war, weil sich so ein dämlicher Kater das Bein gebrochen hatte. Heute Mittag, als die Staubkatze gemeinsam mit ihren Cousins den frechen Kater verkloppten, war Levox richtig vor Augen geführt worden, woher die Schmerzen kamen - es war nicht nur die Einbildung von Schmerz, die man bekommt, wenn man eine Verletzung sieht. Instinktiv nahm Levox über seine Fähigkeit alles Leid auf, was es um ihn herum gab, es war nicht möglich, wegzuhören. Er konnte nur versuchen, die hereinkommende Information zu ignorieren. Doch immer, wenn ein besonders lautes Geräusch seinen sechsten Sinn erreichte, drang dieses natürlich bis zu seiner Wahrnehmung durch, bis er reagieren konnte und es zu verdrängen. Jeder Schlag, jede neu entstehende Wunde war ein solches Geräusch, und die ersten und damit unerwartetsten Schläge trafen ihn besonders hart. Und jetzt meinten diese Idioten, die sich als erwachsen bezeichneten, einen Zellenblock weiter sich die Köpfe einschlagen zu müssen und ihn so aus dem Schlaf zu reißen. Interessanterweise schien der Kampf nach dem Ohr und der Wange schon wieder vorbei zu sein. Zumindest spürte Levox keine weiteren Treffer - nicht dass ihm die ersten beiden schon absolut gereicht hätten. Stattdessen erregte ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit: Angst, Verzweiflung, Panik. Genervt drehte sich Levox in die Richtung um, in der er die Quelle zu sein glaubte. Bevor er jedoch eine verärgerte Bemerkung abgeben konnte, erblickte er das geflügelte rosa Fellhäufchen, das zitternd vor Kälte mitten auf dem kalten Laborboden lag und keine Ahnung zu haben schien, wo es war. Weit und breit war auch niemand zu erkennen, der sich um den Zustand des Jungen zu scheren schien - Lieber reißen sie sich drüben gegenseitig das Fell aus. Levox erinnerte sich an heute morgen, wo er ängstlich und ziellos war, ohne einen Schimmer, wo er hier gelandet war, ohne die Wärme einer anderen Katze, bis er auf Schnee...613 gestoßen war. Das rosa Häufchen würde sterben, kümmerte sich niemand darum. Und da das anscheinend allen egal war - würde eben Levox tun, was er konnte, bis sich die Mutter auftreiben ließ. Was auch immer das für eine komische Katze sei, die ihr frisch geborenes Junges einfach alleine durch eine Gegend wandern ließ, in der es hieß, dass die eine oder andere Katze Junge auch mal als Proteinquelle nutzen. Eilig huschte Levox zu dem Jungen auf dem kalten Beton. Die Angst und die Verzweiflung des Jungen erfüllte seinen Kopf, doch er konnte sie nicht unterdrücken. Wollte sie nicht unterdrücken, denn er wusste, je mehr der Furcht er fühlte, desto weniger würde es das Junge. Außerdem, wenn er alles richtig machte, würde sie sowieso nachlassen - und es gab kein besseres Gefühl als wenn der Schmerz nachließ. Vorsichtig ließ sich Levox neben dem Jungen nieder und fragte mit leiser, fast flüsternder Stimme: "Was machst du denn so alleine hier draußen, mitten auf dem kalten Beton?"
Normalerweise hätte Levox wohl in einem Gespräch unter Erwachsenem, wie es dieses hier zu sein schien, wohl weder etwas zu suchen gehabt noch Interesse darin gefunden. Schwach erinnerte er sich daran, dass er früher oft das Gefühl gehabt hatte, Erwachsene verhielten sich anders, wenn er anwesend war, verstellten sich, weil ein Kind zuhörte. Es hatte ihn immer genervt; wie sollte er die Welt verstehen, wenn er in eine Blase gesteckt wurde und nichts außerhalb dieser sehen, hören und fühlen konnte? Doch diese hier waren völlig anders. Der Schwarz-grau getigerte zeigte von Anfang an keine Hemmungen, die Dinge so auszusprechen, wie sie waren, oder zumindest wie er dachte, dass sie waren, ohne die unschöne Wahrheit irgendwie Levox zugute schönzureden oder blumig zu verpacken, sodass nur die anderen Erwachsenen verstünden, was Sache war. Das stiftete wohl auch 278 an, aus der liebevollen und positiven Ausdrucksweise, die sie zuvor Levox gegenüber gehabt hatte, herauszutreten und sich selbst zu zeigen: Eine zurecht stolze, ehrliche und schlagfertige Wächterin.
Obwohl die eine oder andere Wahrheit durchaus ein wenig schockierend war für Levox, vergaß er den Schock sehr schnell wieder angesichts der Anspannung, die sich im Gespräch entwickelte. Mangels Erfahrung und Alter tat er sich natürlich schwer, die Intention hinter jeder Aussage zu verstehen, doch die Kernaussagen der Konversation konnte er größtenteils heraushören: 278, die als Wächterin das System verteidigte, 705, der irgendwie Geschichte zu haben schien, die er hinter sich lassen wollte, und 613, die er schon kannte und die mit 278 irgendwie überhaupt nicht einer Meinung zu sein schien, dies jedoch nicht so ganz direkt sagen wollte. Vielleicht würde Levox sie später noch einmal darauf ansprechen. Eines konnte er auf jeden Fall sicher sagen: Diese Art Konflikt erwies sich als wesentlich informativer, produktiver und konstruktiver als sinnloses Blutvergießen. Aus einer solchen Konversation auf - zumindest ungefähr - Augenhöhe konnte man als Beteiligter ebenso wie als Außenstehender doch so viel mehr lernen als aus einem Kampf mit Zähnen und Krallen.
Die Versammlung hatte Levox etwas mitgenommen. Nachdem Schnee ihn beim Gespräch mit 278 abgelöst hatte, war ihm aufgefallen, wie hungrig er war. Von dem emotionalen Chaos, das von der Botschaft bezüglich 001's Tod verursacht worden war, lag immer noch in der Luft und sorgte in Levox für ein melancholisches Gefühl. Der Hunger auf der anderen Seite war definitiv dominant genug, um die negative Welt für einen Moment auszublenden. Levox schlenderte mit begrenztem Orientierungssinn durch die Gänge. Der Weg, denn er dorthin nahm, wo er heute morgen aufgewacht war, schien nicht gerade der optimale zu sein. Es sah irgendwie alles gleich aus, überall der gleiche graue Boden, die gleichen Käfige, die gleichen Wände. Trotzdem fand Levox irgendwann die Stelle, von der er überzeugt war, es sei der Ort, wo er heute Morgen Schnee kennengelernt hatte. Da waren noch einige feuchte Flecken am Boden von den mittlerweile geschmolzenen Eissplittern und die Wasserschale lag auch noch irgendwo anstelle des scheinbar vorgesehenen Ortes. Hier waren auch die Schalen mit Trockenfutter - ein Konzept, das Levox bisher nicht gekannt hatte, doch er hatte bereits einige Katzen davon fressen sehen. Viele Katzen waren hier auch nicht wirklich unterwegs. Die meisten waren wohl noch bei der Versammlung oder hatten sich zurückgezogen. Gut. Dann konnte Levox in aller Ruhe diese sonderbare Nahrung versuchen.
Levox Augen weiteten sich vor Erstaunen, als Schnee vor ihm zu der größten Katze wuchs, die er je gesehen hatte. Sogar noch größer als mein Vater."Woooaaah! Wie hast du das gemacht?" rief Levox aus, während er in das nun noch flauschigere Fell hineinkletterte. Als Kind hatte ihn sein Vater oft auf dem Rücken durch die Gegend getragen. Levox erinnerte sich an das Fell, die warme Haut darunter, die ihn die Kälte außenrum vergessen ließ - es war eine der wenigen klaren Erinnerungen, die Levox an seine Eltern hatte. Eine schöne noch dazu. Jetzt ging es Levox ähnlich. Im Fell der bis gerade fremden Katze konnte sich Levox fast verstecken, wenn er wollte. Aufgrund der äußerst ähnlichen Fellfarbe würde er ohnehin kaum auffallen. Nur seine schwarze Stirn und seine Augen würden sich wohl vom weiß abheben. Naja, Hauptsache er konnte von seinem neuen Hochsitz aus alles gut sehen.
278's Worte klangen beruhigend, doch Levox war nicht überzeugt. Das Rätsel blieb beim Warum. Warum hatte jemand den Kater und Anführer getötet, der doch bei allen so beliebt gewesen zu sein schien? Was rechtfertigte ein solches Vorgehen? Levox dachte an den Kater, den er heute morgen gesehen hatte: Überall am Körper frische Wunden, tiefe darunter, und ein Vorderbein gebrochen. Ob er demselben Monster begegnet war? Und wenn nicht, dann gab es offensichtlich mehrere Monster im Labor, und die älteren Katzen konnten nicht einmal das erste finden. Ob er der Siamkatze davon erzählen sollte? Wirklich sicher fühlte er sich auf jeden Fall kaum mehr. Etwas paranoid blickte er hinter sich, um sich zu vergewissern, dass ihn nicht gleich jemand anspringen würde. Doch zu seiner Erleichterung war dort nur Schnee, die mit freundlichen, aber besorgtem Blick auf sie zugelaufen kam und begrüßte. Die Angst wich aus Levox' Körper, als er an ihr vorbeistriff und seines an das beinahe ebenso weiße Fell der Kätzin schmiegte und damit den restlichen Staub, der noch an seinem Kopffell hing, gleichmäßig über ihre Seite verteilte.
Das mehrmalige Auftreten auf sein Bein führte zu keinen unerwarteten, spürbaren Resultaten. Ganz sicher fühlte Levox sich dabei aber noch nicht. Schnees Gestik munterte ihn auf jeden Fall wieder auf und seine Gesichtszüge gewannen die kindliche Unbeschwertheit zurück, die man von einem jungen Kater wie Levox erwartete. Auf Schnees Rücken durchs Labor reiten? Das klang nach viel Spaß. Und dann würde er sich auch keine Sorgen machen müssen, dass er nochmal komisch auf sein Bein auftrat. Eifrig nickte Levox zurück und machte sich bereit, mit Schnees Hilfe den weißen, flauschigen Rücken zu erklimmen. Seine Augen waren voll Begeisterung, Neugier, er wolllte alles sehen, was ihn in dieser neuen Umgebung erwartete.
Die plötzliche Kälte in 278's Stimme ließ Levox erschaudern. "Teuer bezahlen?". Er verstand nicht, konnte sich nicht vorstellen, was genau das heißen sollte. Doch die Stimme der Staubkatze neben ihm war bestimmt, und was er aus den Gesprächsfetzen um ihn herum heraushören konnte, gab es noch andere Katzen die ähnlich dachten. Was wirst du machen? fragte Levox mit einer Spur Angst und einem Schimmer Bewunderung. Was wenn du die böse Katze findest und sie dir auch noch wehtut? Was, wenn es gar keine Katze ist, sondern was anderes? Ein Dachs vielleicht - oder ein Wolf? Levox Stimme überschlug sich. Mit weiten Augen blickte Levox auf 278. Er hatte keine Ahnung was das war, ein Dachs oder ein Wolf. Er erinnerte sich nur an die Geschichten seines Vaters, und in denen waren es furchtbare Wesen, die immer nachts jagten und am liebsten junge Katzen verspeisten. Doch wenn der Anführer des Labors, der anscheinend der größte, stärkste und gerissenste im Labor war - was sollte dann nur aus all den anderen Katzen werden?
Angesprochen: Calliope/278 @Shahar Erwähnt: 001, Levox' Vater
Ort: In der Nähe von 001's Zelle
Noch immer steckte Levox ein wenig in 278's Gefühlswelt und bekam das Chaos aus Trauer, Scham, Unsicherheit, Stolz und Sorge an der Oberfläche mit. Es war ihm zu viel um zu verstehen, was in 278's Kopf vor sich ging, und er wünschte sich für einen Moment, ihre Gedanken lesen zu können. Irgendwie war das Chaos tröstend, zu sehen, dass auch diese stolze, ausgewachsene Katze ihre Schwierigkeiten hatte, das Durcheinander zu bändigen und die Fassade aufrechtzuerhalten. Die Bestimmtheit in ihrer Stimme, als sie davon sprach, in 001's Namen alle Katzen des Labors zu beschützen, die Bewunderung bei der Erwähnung des Anführers. Ein Schauer lief Levox über den Rücken, als ihm bei den Worten 278's wieder sein Vater in die Gedanken sprang. Der große, stolze, schneeweiße Kater, an den er nur noch Fragmente von Erinnerung hatte. Er war mein Anführer und Vorbild. Jemand, zu dem ich während meines ganzen Lebens aufgeschaut habe. Er hat mir ein Zuhause geschenkt. Hoffnung. Geborgenheit. Wie ein heller Stern am Nachthimmel, zu dem man jeden Abend aufblickt. Für einen Moment bildete sich Levox ein, der weiße Kater läge in der Zelle vor ihnen. Es war so viel angenehmer, gemeinsam zu trauern, obwohl sie sich nicht kannten. Vielleicht gerade deshalb? Levox wünschte sich, er könnte seine Tränen ebenso verbergen wie 278. Sie war stark, obwohl Levox fühlen konnte, dass 001's Tod an ihr ebenso schlimm nagte wie der Verlust seiner Eltern an ihm.
Nach einer kurzen Weile brach Levox mit zittriger Stimme die stille Trauer zwischen den beiden: "Welches Monster würde einen solch großartigen Kater töten?"
Levox richtete sich auf. Er war ein wenig ungünstig gefallen und mit der Schnauzen auf dem harten Beton gelandet. Sonst war aber nichts weiter passiert. "Äh, nein. ... Ich glaube nicht", antwortete er mit wenig Überzeugung in der Stimme. Etwas perplex stand Levox da und versuchte zu begreifen, was da gerade passiert war. Ob er sich einfach nur das Bein vertreten hatte? Das war ihm noch nie passiert. Vorsichtig trat er ein paar Mal auf das Bein auf, um zu prüfen, ob der Schmerz wieder auftauchen würde, doch alles schien wieder normal zu sein. Auch wenn die Verwirrung noch nicht so ganz aus seinem Gesicht verschwunden war, er hatte jetzt keine Lust darüber zu grübeln. Jetzt wollte er erst einmal sein neues Umfeld kennenlernen.
Levox konnte dem scharfen Blick der Katze über ihm nur einen kurzen Moment standhalten. Beschämt blinzelte er und schaute auf den Boden. Es dauerte einen Moment, bis seine Beine ihm wieder gehorchen wollten, und er richtete sich unbeholfen auf. Noch einmal musste Levox niesen, bevor er der Katze über ihm seinen Namen verraten konnte. Äh... Ich bin 871.
Das Gefühl, das er von 278 teilweise aufgenommen hatte, fühlte sich furchtbar an. Mit einem Mal schien das Labor die wenigen Farben, die es hatte, zu verlieren, wie ein grauer Filter lag die Trauer um 001 in der Luft. Er war überrascht, wie stark den anderen Katzen der Tod des ihm völlig fremden Katers zu Herzen ging.
Levox spürte, wie 278 ein wenig unruhig wurde. Nicht seine Fähigkeit sagte ihm dies, sondern die etwas ruckartigen Augenbewegungen der Siamkatze, als sie sich suchend umblickte. Das Unbehagen der Kätzin war ansteckend, und Levox Schwanz begann nervös hin und her zu zucken. Er fragte sich, ob er mit dem Teilen der Trauer eine Grenze überschritten hatte, die er nicht hätte überschreiten sollen. Nicht, dass er es absichtlich getan hätte. Doch es war ihm bereits erklärt worden, dass aus Versehen keine Entschuldigung war.
Zu gern hätte Levox den tatsächlichen Namen von 278 gewusst. Genauso wie Schnee fand Levox die Nummer nicht besonders schön, irgendwie unpersönlich, systematisiert und deindividualisierend. Doch er wagte es nicht, nachzufragen. Warum sollte die stolze Wächterin einem wildfremden Jungen ihren Namen verraten, wenn es doch verboten war, diesen zu nennen? Offensichtlich lag ihr ja etwas an dem System und dessen nun ehemaligen Anführer 001, auch wenn Levox kaum Stolz heraushören konnte, als sie sagte, dass sie gerade eben Wächterin geworden war. Die Trauer sprach doch Bände.
Der Blick der blauen Augen 278's war nun weicher. Ob er ganz alleine hier war? Die Trauer, die ihn nun überkam, war leider seine eigene. Levox hatte noch nicht wirklich die Zeit gehabt, die Trennung von seinen Eltern zu verarbeiten. Heute morgen konnte er das noch verdrängen durch die neue Umgebung. Levox blinzelte ein paar Mal, um die heraufkommenden Tränen zu verbergen. Das war bestimmt nur der Staub, der immer noch relativ dicht um die beiden in der Luft hing.
Allerdings konnte Levox es 278 nicht verübeln, dass sie sich Sorgen machte. Den Geschichten nach gab es hier ja auch Katzen, die sich einen Spaß daraus machten, besonders schwächere und jüngere Katzen zu ärgern, zu verletzen oder sogar zu töten. Wenn er in das Fell einer solchen Katze gestürzt wäre, die vielleicht sogar noch schlechte Laune angesichts der schlechten Neuigkeiten hatte, hätte das auch ganz anders ausgehen können. Die Gedanken daran waren zwar auch nicht schön, aber sie lenkten ihn von seinen Eltern ab und verhinderten, dass er hier vor allen anderen völlig in Tränen ausbrach.
Er hat dir viel bedeutet, nicht?, fragte Levox die Siamkatze nach einer Weile mit einem Schwanzzucken in Richtung der Zelle mit dem toten Kater. Seine Stimme war sanft und etwas vorsichtig, denn er war sich unsicher, ob es eine gute Idee war, das Thema noch einmal anzuschneiden. Auf der einen Seite wollte er mehr über 001 erfahren, wie die Katzen zu ihm standen. Schnee war meist sachlich geblieben und hatte die meisten Dinge zu dem Anführer als Tatsachen dargestellt, nicht lange Hintergründe erklärt. Auf der anderen Seite konnte sich Levox vorstellen, dass es angenehm für 278 sein würde, darüber zu reden. Es könnte ihm auch helfen, mit dem Verlust seiner Familie zurechtzukommen, wenn er sähe, wie andere Katzen mit ähnlichen Verlustgefühlen umgingen.
Levox blickte überrascht auf, als urplötzlich laute Rufe durch das Labor hallten. Den Vormittag hatte er zum größten Teil damit verbracht, sich die Umgebung vertraut zu machen, während ihm Schnee alles mögliche über das Labor, die Regeln und die Katzen darin erklärt hatte. Davon hatte er zwar bestimmt nicht alles behalten, doch an das Wichtigste erinnerte er sich. Der junge Kater ließ seinen Blick schweifen und brauchte ein paar Momente, bis er die Silhouette einer Katze mit großen ledrigen Flügeln in der Luft gegen die durch die Fenster hereinscheinende Sonne entdeckte. 200's Stimme war voller Trauer, als sie den Tod 001's verkündete, jedoch die absoluten Worte "001 ist tot" mied. Voller Wut, als sie davon sprach, dass ein Verräter ihn ermordet hatte. Levox bewunderte, wie sie die Kontrolle über ihre Stimme trotz des Schmerzes behielt.
Mit der Botschaft brach eine Welle durch die Reihen der umstehenden Katzen. Mit einem Mal war er umgeben von einer Masse an Trauer, Kummer, in den anderen Katzen schienen Welten zusammenzubrechen. Nun, Levox konnte es den Katzen nicht verübeln. Immerhin war der geliebte Anführer der Katzen unerwartet gestorben. Die Welle des Leids traf Levox völlig unvorbereitet. Sein sechster Sinn war immerhin noch neu und unkontrolliert und der weiße Kater war für solch massiven Input nicht gewappnet. Er strauchelte, für einen Moment verschwamm das Bild vor seinen Augen, und unvermittelt krachte er mit dem Gesicht in das beige Fell einer anderen Katze. "Verzeih... - tschi!" Der Staub, der wohl aus dem Fell der Katze aufgewirbelt war, war in Levox Nase gekrochen. Der Nieser war unangenehm laut, doch zum Glück übertönte ihn die Stimme 200's zum Großteil. "Ich wollte nicht...". Er verstummte, als die Augen der Siamkatze ihn trafen. Augen waren gefährlich, wenn es um seinen sechsten Sinn ging, das hatte Levox bereits gemerkt. Er wollte wegschauen, doch die Leere der Kätzin, die Trauer um 001 traf ihn heftig, und er konnte seinen Blick nicht abwenden, als er das Leid aus den blauen Augen in sich aufnahm.
Out: Levox kann nur einen Teil von Calliopes Schmerz nehmen.
Levox sprühte vor Energie und Motivation als sich Schnee erhobt und darauf wartete, dass er auch bereit für den Aufbruch wäre. Sie sagte zwar, dass er sich keine Hoffnungen machen sollte und dass das Labor auch nicht so spektakulär sei, aber Levox war sich trotzdem sicher, dass er hier viel zu entdecken gab. Allein die Tatsache, dass hier dutzende Katzen herumliefen, machte den Ort für Levox völlig neu. Und interessant. Ob die Katzen hier alle so nett und zuvorkommend waren wie Schnee? Levox' Blick fiel auf die beiden Katzen, die noch immer unweit von ihnen Eissplitter zu Wasser schmolzen, um ihren Durst stillen zu können. Der Goldbraune Kater hatte überall am Körper Wunden von Krallen, Prellungen, und eine Vorderpfote war gebrochen. Was wohl mit ihm passiert war?. Ohne der Blick gleich wieder von dem Kater lösen zu können, bewegte sich Levox in die Richtung, in der Schnee stand. Doch als er auf seine Vorderpfote auftrat, schoss plötzlich ein leichter, trotzdem sengender Schmerz durch das Bein. Nur für einen ganz kurzen Moment. Dadurch, dass es so unerwartet kam, stolperte er und landete mit einem hörbaren "Au!" neben Schnee auf dem harten Boden.
Als Levox seinen Namen nannte, zuckte 613 ruckartig auf. Levox konnte Panik in ihr auflodern spüren, als sie sich hastig umsah. Dann sah sie im tief in die Augen. "Du musst mir versprechen, dass du niemals - wirklich niemals - jemanden deinen Namen nennst. Auf gar keinen Fall. Wenn dich jemand danach fragt, wie du heißt, nennst du nur deine Nummer. Verstanden?" 613 klang ernst, sorgenvoll. Verwirrt starrte ihr Levox entgegen. Ihm fiel auf, dass das linke Auge der schneeweißen Katze schwarz war, nicht wie das andere blau. Zögernd nickte Levox und er sah, wie 613 sich wieder entspannte.
An was für einem Ort war er hier gelandet, an dem man seinen Namen nicht verraten durfte? Als 613 ihm anschließend verriet, dass sie eigentlich Schnee hieß, konnte Levox deutlich erkennen, dass sie stark darauf achtete, dass es keiner mitbekam. Was wohl passieren würde, wenn es jemand täte? Die haarlose Katze und der goldbraune Kater, die unweit von ihnen saßen, waren zum Glück noch immer beschäftigt, und auch sonst schien sich keiner für die beiden weißen Katzen zu interessieren. Levox konnte sich nur schwer vorstellen, dass so viele Katzen sich alle nur mit Nummern ansprachen. Aber immerhin hatte sich auch Schnee zuerst mit 613 vorgestellt.
Jetzt, wo er jemanden hatte, der sich um ihn sorgte, fühlte sich Levox wieder wesentlich besser, und langsam kam die kindliche Neugier wieder zurück. Interessiert blickte er sich erneut um und analysierte die Umgebung, aber diesmal nicht mit Angst, sondern mit Abenteuerlust. "Zeigst du mir das Labor?". Erwartungsvoll blickte Levox hoch zu Schnee.
Durch die Wärme, die von 613's Fell und ihrer Zunge ausging, fühlte sich Levox gleich viel wohler. Mit dankbaren Augen schaute er hoch auf 613, während diese das Chaos auf seinem Kopf bekämpfte. Als 613 erwähnte, dass er eine Spritze bekommen habe, blitze in seinem Kopf noch einmal das Bild aus seinem Traum auf und ein leichtes Stechen an der Seite ließ ihn leicht zusammenzucken. Doch schnell verschwand der Gedanke und Levox entspannte sich wieder. Leider wusste 613 auch nicht, wo seine Eltern verblieben waren. Doch jetzt, wo Levox darüber nachdachte, konnte er sich auch nur an wenig von ihnen erinnern. Irgendwie war da, wo die Erinnerungen hätten sein sollen, nur ein großes Loch. Ein unscharfes Bild von seinem Vater, dem weißen Kater aus seinen Träumen. Die Wärme und Geborgenheit, die nur seine Mutter ihm bieten konnte. Doch er musste zugeben, er könnte nicht beschreiben, wie sie ausgesehen hatte, obwohl er sich sicher war, dass er es wissen müsste. Doch 613 Zunge fühlte sich fast so gut an wie die seiner Mutter und ihr Fell war auch fast so weich. Liebevoll schmiegte der junge Kater seinen Kopf an 613's weiße Brust und vergaß die Sorgen wieder."Ich heiße Levox."
Levox war es nicht gewöhnt, mit fremden Katzen zu kommunizieren. Um genau zu sein, hatte er noch keine Katze außerhalb seiner Familie kennengelernt. Hoffnungslos überfordert mit der schieren Menge an Information, die auf ihn traf, beobachtete er, wie das besorgte blaue Auge und die Katze, der es gehörte, auf ihn zusprang und ihn begrüßte: "Guten Morgen. Wer bist du denn? Ich bin 613." Levox öffnete den Mund und schloss ihn wieder, denn er wusste nicht gleich, was er sagen sollte. Zitternd vor Kälte kauerte er auf dem Boden. Ein kalter Windstoß fuhr durch Levox zerzaustes Fell und brachte noch mehr Unordnung ins Fell.
"Wo bin ich hier? Wo sind meine Eltern?" Noch einmal blickte Levox sich ängstlich um, aber er konnte seine Eltern einfach nicht unter den vielen Katzen ausmachen. Sie waren doch immer dagewesen, wenn er sie brauchte. Doch jetzt war die einzige Aufmerksamkeit, die der verwirrte, weiße Fellball bekam, die Sorge von 613.
Die Sonne schien auf den schneebedeckten Boden, die ganze Welt glitzerte weiß. Die Luft war kalt, doch Levox spürte das warme Fell seiner Mutter, das sich an seines schmiegte. Die Liebe. Die Geborgenheit. Ein großer Kater stupste ihn liebevoll mit seiner Schnauze an, sagte etwas. Seine Augen waren blau wie das Eis und sein Fell war so weiß wie der Schnee, es blendete Levox fast. Mutig begleitete Levox seinen Vater nach draußen in die Wildnis, machte Bekanntschaft mit der neuartigen weißen Substanz. Sie war kalt. Verspielt und unbeschwert tobte Levox durch den Schnee.
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Plötzlich laute Schritte. Etwas Großes bewegte sich auf ihn zu. Angst breitete sich aus. Levox blickte panisch um sich, suchte nach einem Versteck, doch er konnte nichts finden. Etwas griff nach ihm, hielt in fest. In der Ferne die Rufe seiner Eltern. Levox versuchte sich aus dem Griff zu winden, doch er war nicht stark genug. "Experiment 871." Mit einem Mal fühlte er einen stechenden Schmerz in seiner Seite, der ihn lähmte. Ein Brennen breitete sich rasch in seinem Körper aus. Es wurde immer schlimmer, immer schlimmer, drohte ihn, von innen zu verbrennen, zu zerbersten.
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Ein lautes Klirren riss Levox unsanft aus seinem Albtraum und ließ ihn hochschrecken. Langsam kam Levox zurück in die Realität, langsam begann sein Körper wieder zu arbeiten, wie er sollte. Das erste, was Levox spürte, war die kalte Luft, die dem Feuer in seinem Inneren entgegenwirkte. Sie roch scharf nach Angst; seiner Angst? Die Luft war so kalt, das Levox nicht umhin konnte zu zittern. Warum war niemand hier, der ihn wärmte? Nach und nach verklang der Schmerz in seinem Körper, der vom Traum übrig geblieben war. Levox sah sich um. Der Boden war kahl und hart und war beinahe so kalt wie die Luft. Der Himmel war nicht mehr blau und weiß, sondern holzbraun, und er erschien auch nicht mehr so weit entfernt. In den Wänden waren einige durchsichtige Löcher, durch die das Sonnenlicht schien und ihn blendete. Ein löchriges, silbernes und nicht besonders geräumiges Gestell umgab ihn, jedoch nicht vollkommen. An einer Seite war ein Loch, ausreichend groß, um bequem aus dem Gestell hinausklettern zu können. Diese Umgebung war Levox fremd. In seiner Welt hatte es weichen Waldboden gegeben, mit Gras und Laub, und mit seinen Eltern. Wo waren sie nur hin? Suchend sah sich Levox um. Hier in der Gegend waren viele Katzen. Oder sowas ähnliches. So viele Katzen hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen. Und keine davon schien ihm bekannt vorzukommen. Nicht weit entfernt entdeckte Levox die Ursache für den Krach, der ihn aus seinem unruhigen Schlaf gerettet hatte. Eine magere Katze mit hellem, haarlosem Fell hatte anscheinend einen Gegenstand durch den Raum geschleudert, der nur knapp an einem anderen Kater vorbei durch den Raum geflogen war und dessen Inhalt sich mit einem lauten Klirren in Form von unterschiedlich großen, scharfkantigen Eissplittern gleichmäßig auf dem Boden zwischen den beiden verteilt hatte. Der andere Kater hatte goldbraun getupftes und getigertes Fell und kam Levox ebenso wenig bekannt vor. Levox konnte eine frische Wunde hinter dem Ohr des Goldbraunen erkennen und beim Anblick spürte Levox unwillkürlich einen leichten Schmerz am Kopf. Deshalb blickte er weg und sah sich weiter um. Der weiße Kater aus seinem Traum blitzte kurz in seinen Gedanken auf, als er ganz in der Nähe das Fell einer schneeweißen Katze erblickte. Vater. Doch es war nicht sein Vater, dafür war die Katze zu klein. Er blinzelte, als sie sich umdrehte und Levox vom Blick eines eisblauen Auges getroffen wurde.
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