#Lotus #705Angesprochen: Ray/702
@FledermausErwähnt: 001, Charon/200, Midir/769, Alma/093/693, Rhianwen/013, Iris
"Pass auf, was du dir wünschst. Es könnte in Erfüllung gehen"Es war lange her. Lange, seitdem
Lotus das geworden war, was er verabscheute: Schwach. Früher hatte sich
Lotus der Gefahr gestellt, sie gesucht oder war sie für manche vielleicht selbst gewesen. Doch seit der Versammlung vor knapp 9 Monden, von der er neben einigen kleineren Kratzern mit einem mehrfach gebrochenen Bein, einer verlorenen Pfote und nur knapp mit dem Leben davon gekommen war, hatte er sie gemieden.
Zugegeben, die Verletzungen hatten ihre Erholungszeit benötigt. Zu Beginn zumindest hatte er seine Schwäche noch darauf schieben können. Für einige Wochen hatte er das System gehasst, für das was es war, und diejenigen, die ihm folgten, Vor allem das gemeingefährliche Experiment 769, das die Verantwortung für
Lotus' Zustand getragen hatte. Doch auch nachdem sich die Wunden einigermaßen erholt hatten, war er weiterhin den Wächtern und Vertrauten bewusst ausgewichen, wenn es ging. Langsam war der Hass übergeschwappt auf ihn selbst.
Lotus musste sich wohl oder übel eingestehen, dass es die Furcht war, die ihn vom Leben ferngehalten hatte, die Angst, erneut geschlagen zu werden, ohne Warnung, ohne Ehre, ohne Gnade. Gerne hätte er noch hinzugefügt: Ohne Grund.
Die letzten Wochen ging es ihm eigentlich schon wieder vollständig gut. Dank seiner Fähigkeit war seine Pfote vollständig nachgewachsen und auch der Beinbruch war problemlos verheilt. Dennoch war er unnötig vorsichtig gewesen. Aus den Schatten hatte er beobachtet, was im Labor vor sich ging.
Wie ein Feigling. Hatte zugesehen, wie die Dinge passierten, die er nicht leiden konnte. Zum Beispiel 769, wenn er mal wieder aus reiner Befriedigung Katzen verprügelte.
Lotus wollte sich nicht direkt wieder in einen Konflikt bewegen und negativ auffallen. Sonst wäre mittlerweise bestimmt schon irgendwo aufgetaucht, wo Katzen grundlos anderen Katzen das Fell ausrissen, und hätte dem Täter seine Meinung gegeigt. Mit Krallen und Zähnen natürlich. Doch
Lotus hatte auf eine Gelegenheit gewartet, sein Auftauchen in ein Licht zu stellen, das zumindest für die Beteiligten halbwegs positiv war. So wie zum Beispiel gestern, nachdem 001 mit Charon gestritten hatte und er sie eingesperrt hatte. Zu gerne wäre er zu ihr getreten, hätte ihr Gesellschaft geleistet, sich mit ihr unterhalten. Doch dann waren ihm ihre Kinder zuvor gekommen und hatten sie schon befreit.
Die
Gelegenheit, die ihn dann heute Mittag erwartete, traf ihn jedoch nicht nur urplötzlich, sondern auch unerwartet hart. Oft genug hatte
Lotus 001 den Tod gewünscht, auch wenn es eigentlich nicht um 001 selbst ging, sondern um die Moralvorstellungen, die er fanatischen Verehrern wie 769 verkaufte. Doch als Charon jaulend verkündete, dass 001 nicht mehr lebte, konnte
Lotus trotzdem spüren, wie sich ein flaues Gefühl in ihm ausbreitete. 001 hatte ihn nie gemocht,
Lotus hatte den starken Kater dennoch geschätzt. Vielleicht nicht für seine Regeln, seine Ansichten, doch zumindest dafür, dass er ein starker Kater war, der bislang jeden Gegner im Kampf bezwungen hatte.
In der Versammlung war die Stimmung mit Charons Verkündigung schnell umgeschlagen. Die Gesichter der Katzen in der Menge waren leer. Einige kannte
Lotus noch von früher, die meisten waren ihm fremd. Trauer gab es in allen Ecken, gemischt mit Wut. Es wurde von Mord gesprochen, einem Hinterhalt, ehrenlosem Meuchel. Etwas, das
Lotus nicht einmal 769 gewünscht hätte.
Wo war dieser eigentlich? Er hatte keine Lust, jetzt auf den gewaltliebenden Kater zu treffen.
Aufmerksam beobachtete
Lotus das Geschehen. Charon war inzwischen im Gespräch mit einer Katze, die
Lotus nicht kannte. Die geflügelte, schwarze Experiment war ihm schon ein paar mal aufgefallen, seit er wieder begonnen hatte, seine Aufmerksamkeit über Futternapf, Schlafplatz und seine Wunden hinaus zu richten. In
Lotus Augen verhielt sich die junge Katze wesentlich selbstbewusster und herablassender anderen Katzen gegenüber als ihr dem Erscheinungsbild nach erlaubt sein sollte. Erst kürzlich hatte er sie auf 769 treffen sehen, und der hatte ihr zu
Lotus' Überraschung nicht unter Schlägen in ihre Schranken gewiesen, obwohl sie ihm genauso frech und herablassend begegnet war wie allen anderen Katzen. Auch in Charon schien die Katze zu respektieren, die sichtlich verärgert war, als 013 ihr Gespräch unterbrach und die schwarze Katze vertrieb.
Etwas weiter hinten, näher an 001 Zelle entdeckte
Lotus einen alten Freund. Experiment 702. Ray. Unsicher trat
Lotus von einer Pfote auf die andere. Seit Monden hatte er nicht mehr mit ihm gesprochen. In beide Richtungen. Für einen Moment starrte
Lotus auf den Kater, bewunderte, wie er still auf den toten Körper seines gefallenen Vater blickte und dabei die volle Kontrolle über sich bewahrte. Als
Lotus seine Mutter verloren hatte, hatte er tagelang geheult wie ein Junges. Gut, da war er auch noch jünger. Doch selbst jetzt wäre
Lotus sich nicht sicher gewesen, ob er es so gut wegstecken könnte wie Ray das gerade tat.
Mit ruhigen Schritten näherte sich
Lotus dem braunen Kater, der immer noch in Gedanken versunken auf die Zelle seines Vaters starrte. Er blieb neben ihm stehen, den Blick ebenfalls schweigend auf 001's toten Körper gerichtet. Es brauchte keine Worte, um
Lotus Mitgefühl für Ray auszudrücken, und er wollte
Lotus nicht aus den Gedanken reißen oder ihn zu früh in ein Gespräch zwingen.
Nimm dir die Zeit, die du brauchst, alter Freund.